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Zwei Seiten einer Medaille - Evolutionsforschung am Ende des 20. Jahrhunderts.

Peter v. Sengbusch

Aus: Naturwissenschaftliche Rundschau 48, 97-105 (1995)


Lohnt es sich heute noch über DARWINs Arbeiten, vor allem über sein 1859 erschienenes Hauptwerk "On the origin of species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle of life" zu diskutieren ? Viele umfangreiche Werke sind darüber in den letzten 130 Jahren erschienen, hervorzuheben sei dabei E. MAYRs "The growth of biological thought" (1982). MAYR verdeutlicht darin, daß DARWIN nicht nur eine sondern insgesamt fünf primär voneinander unabhängige Theorien aufgestellt hatte:

  1. Evolution an sich,
  2. gemeinsame Abstammung,
  3. allmähliche Evolution (Gradualismus),
  4. Artbildung als Populationsphänomen,
  5. natürliche Auslese.

Über jede dieser Theorien ist vehement gestritten worden, und erst im Verlauf von Jahrzehnten fanden sie alle zunehmend Anerkennung.

Wie kein anderer hat Ernst MAYR unentwegt auf Fehlinterpretationen, Begriffsverwirrungen, vor allem auf das Phänomen der Selektion hingewiesen; er sieht es als große Leistung biologischer Forschung in diesem Jahrhundert an, die "Einheit der Biologie" erkannt zu haben. Er hebt die Dichotomie von Genotyp und Phänotyp hervor, macht deutlich, daß die natürliche Auslese am Phänotyp und nicht am Genotyp ansetzt, und er zeigt die große Bedeutung der Genetik zur Klärung von Evolutionsprozessen auf. Er stellt unmißverständlich dar, daß man es in der Biologie stets mit Komplexität zu tun hat und daß der Versuch, die Biologie auf die Physik reduzieren zu können, ein Mißverständnis ist. MAYR präsentiert eine Fülle von Belegen für die Richtigkeit und Allgemeingültigkeit der DARWINschen Evolutionstheorien, aber er bedient sich nicht aller durch die Forschung in diesem Jahrhundert gewonnenen Erkenntnisse. Er behandelt Mikroorganismen fast gar nicht, Pflanzen nur am Rande, die Zelle reiht er nicht in seine Argumentationslinie ein, und auch einige der modernen Erkenntnisse der Molekularbiologie zur weiteren Stütze des Evolutionsgedankens werden nicht voll ausgelotet. Nichtsdestotrotz: keiner der scheinbar ausgelassenen Befunde schmälert den Geltungsbereich seiner Aussagen. P. SITTE hat in einem kürzlich erschienenen Aufsatz, in dem er die Bedeutung der Zelle hervorhebt, dargelegt, daß die Wege der Biologie vom Komplexen zum Elementaren gingen. Das ist einleuchtend, denn es sind komplexe Dinge, die der Mensch mit seinen Sinnen wahrnimmt, er versucht zunächst, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden (ein echter Selektionsvorteil im DARWINschen Sinne), und erst nachdem er über genügend Informationen verfügt, bemüht er sich um Klärung von Ursachen.

Der Fortschritt in der biologischen Forschung in diesem Jahrhundert beruhte zu einem großen Teil auf der Konstruktion und Nutzung geeigneter Forschungsgeräte. Da die damit erzielten Ergebnisse (in der Zellbiologie, der Molekularbiologie u.a.) primär nur einer kleinen Zahl von Experten zugänglich waren (und sind), bildeten sie auch kaum Ansatzpunkte für eine öffentliche und/oder ideologisierte Diskussion. Eine solche ist in den letzten Jahren erst im Zusammenhang mit der Gentechnik und Fragen der Sicherheit in Gang gekommen.

Wenn man das Thema Evolutionsforschung am Ende des 20. Jahrhunderts erneut aufgreift, muß man vom heutigen Wissensstand der Naturwissenschaften ausgehen. Anders als der Erkenntnisprozeß in der Biologie, verlief die Evolution der Organismen vom Einfachen (vom Elementaren) zum Komplexen.

Das 20. Jahrhundert gilt unter Biologen als das Jahrhundert der Vererbungslehre oder Genetik, wobei die erste Hälfte als die Epoche der klassischen Genetik, die zweite als die der molekularen Genetik anzusehen ist. DARWIN wußte nur wenig über die eigentlichen Mechanismen, die einer Artbildung zugrunde liegen: Er entwickelte selbst eine Vererbungstheorie, die Pangenesis-Theorie, die zumindest als Erklärung der "gemeinsamen Abstammung" herangezogen werden kann. Um 1930 / 1940 lagen bereits genügend gesicherte Aussagen über die Vererbung (von Merkmalen) vor, so daß DARWINs Theorien unter diesem Aspekt neu gesehen werden konnten. T. DOBSZHANSKY (1937), J. HUXLEY ("Evolution: The modern synthesis", 1942) und G. L. STEBBINS (1950) faßten die Ergebnisse zusammen und begründeten damit die "Synthetische Theorie" (Neodarwinismus). . Populationsgenetiker (R. A. FISHER, 1930, S. WRIGHT, 1931) definierten die Begriffe Fitneß und Selektion mathematisch und machten die entsprechenden Phänomene einer quantitativen Analyse zugänglich.

Hier gilt allerdings MAYRs wiederholt geäußerter Einwand, daß für die Selektion niemals das einzelne Gen, beziehungsweise Allel ausschlaggebend ist, sondern die Integrität des Genoms. Das Gesamtgenom ist für die Ausprägung des Phänotyps erforderlich, und deshalb bestimmt es dessen Eignung, so daß die auf Gen- (bzw. Allel)-basis entwickelten mathematischen Modelle zum Verständnis der Evolution weitgehend irrelevant sind.

Außer der Genetik gewannen für das Verständnis der Evolution in diesem Jahrhundert zwei weitere Disziplinen an Bedeutung. Einmal die Biochemie, durch sie wurde ein schon 1842 von M. SCHLEIDEN aufgestelltes Postulat erfüllt:

"Es ist schon früher bemerkt worden, daß wir solange gar nichts im Leben der Pflanze erklärt haben, solange wir nicht die physikalischen oder chemischen Vorgänge nachgewiesen haben, auf denen dasselbe beruht, und gerade hierfür ist es nun unerläßlich notwendig, daß wir unsere Untersuchungen bei dem einfachsten Fall, der einzelnen Zelle beginnen.",

zum anderen die Informations- und die Systemtheorie. Diese gelten zwar nicht ausschließlich für die Biologie, liefern uns aber gerade für die Evolutionsforschung eine solide operationale Basis, um das angesammelte Wissen in übersichtlicher Weise zu ordnen und das Verständnis von Komplexitätszunahme und Organisationshöhe zu erleichtern.

Die Systemtheorie erlaubt es uns, Systeme und die Beziehungen der einzelnen Systemelemente unter- und zueinander zu klassifizieren. Systeme können auf unterschiedlichen Hierarchieebenen angeordnet sein (Untersysteme, übergeordnete Systeme usw.). Um ein System zu analysieren, braucht man nicht unbedingt die Einzelheiten innerhalb der Untersysteme zu kennen. Es hat sich daher bewährt, solche als eine "Black Box" zu betrachten.

In der Biologie lassen sich in grober Annäherung die folgenden Hierarchieebenen (Hierarchiestufen) feststellen:

Molekül > Makromolekül > Zelle > (vielzelliger) Organismus > Ökosystem.

DARWIN konzentrierte sich (entsprechend dem Wissensstand seiner Zeit) auf die Beobachtung von Organismen (Arten) und die Interaktionen zwischen ihnen und ihrer Umwelt. Er wußte nichts über Ökosysteme, kannte aber einige ihrer Systemelemente, er wußte wenig über den zellulären Aufbau der Organismen, kannte aber viele ihrer Eigenschaften (z.B. Umweltreize durch Sinnesorgane wahrzunehmen und darauf in einer entsprechenden Weise zu reagieren). DARWIN war die Größe "Zeit" geläufig, und er nutzte sie als Erklärung von Veränderungen und die Akkumulation von Veränderungen, die schließlich zur Entstehung neuer Arten führen würde. Er zeigte, daß sich Organismen (Arten) im Verlauf der Zeit aneinander und an ihre Umwelt anpaßten; so machte er u.a. deutlich, daß es die Vielfalt an Blütenfarben, -düften und -formen ohne die Insekten als Bestäuber nicht geben würde. Er konnte daher den Selektionsgedanken formen, ohne die tieferliegenden Ursachen der Selektion zu kennen.

Selektion läßt sich heute als eine Materieeigenschaft verstehen, die immer dann erkennbar wird, wenn verschiedene "Einheiten" (z. B. Partikel aller Art, Zellen, Organismen, Organismen und ihre Umwelt) miteinander in Wechselwirkung treten. Damit kann DARWINs Selektionstheorie auch auf Organisationsebenen niederer Komplexität (Systeme niederer Hierarchiestufen) ausgedehnt werden und ihre Allgemeingültigkeit belegt werden. Stellen wir uns aber heute dieses Problem, müssen wir uns fragen, welche Ursachen einer Systembildung zugrunde liegen und welche Gesetzmäßigkeiten auf den einzelnen Hierarchieebenen erkennbar sind.


Voraussetzungen für eine Evolution


Mutation, Rekombination und Selektion werden heute landläufig als Ursachen für eine Evolution gesehen. DARWIN kannte den Begriff Mutation nicht, er sprach von Veränderlichkeit, von Variieren und von Varietäten. Wir verstehen unter Mutation eine Erbänderung, wir wissen mittlerweile aber auch, daß es zahlreiche, voneinander grundsätzlich verschiedene Mechanismen zur Abänderung genetischer Information gibt. Dabei ist zu unterscheiden, ob einzelne Gene (Erbanlagen) oder die Gesamtheit der Gene (das Genom) verändert werden. Punktmutationen, Rastermutationen, Einschub oder Eliminierung von Insertionselementen und Veränderung der für die Expression erforderlichen Signalabschnitte sind nur einige der Mechanismen, die zur Mutation einzelner Gene führen und damit die Ausprägung des Phänotyps beinflussen. Chromosomenmutationen, Duplikation oder Deletion von Genen, Umstrukturierung des Genoms und Rekombinationen sind Beispiele für Auswirkungen, die das Gesamtgenom betreffen. Zum Verständnis des Evolutionsprozesses ist es oft entscheidend, zu erkennen, welcher der genannten Mechanismen für eine Erbänderung ausschlaggebend ist.

Rekombination wurde in den letzten Jahren lediglich als das Ergebnis der Neukombination von Genen bei sexueller Fortpflanzung oder beim reziproken Crossing over gesehen. Seit etlichen Jahren rücken die sogenannten mobilen genetischen Elemente (Transposons, Insertionselemente) zunehmend in das Interesse der Evolutionsforscher. Diese DNS-Abschnitte können sich im Genom bewegen; meist verursachen sie dadurch eine (reversible) Inaktivierung vorhandener Gene oder eine Umstrukturierung von Teilen des Genoms. Es zeigt sich immer deutlicher, daß sie damit zu einem Diversifikationsfaktor werden und die Veränderung des Genoms entscheidender beeinflussen als einfache Punktmutationen.

Selektion hingegen können wir primär als eine Materieeigenschaft, sekundär aber auch als eine Systemeigenschaft verstehen, die immer dann zum Tragen kommt, wenn verschiedene "Einheiten" (z.B. Partikel aller Art, Zellen, Organismen, Organismen und ihre Umwelt) miteinander in Wechselwirkung treten; anders gesagt, Selektion oder Auswahl gibt es immer dann, wenn eine Reaktionsbereitschaft vorliegt und die miteinander reagierenden Einheiten nicht in exakt der gleichen Zahl (am gleichen Ort, zur gleichen Zeit) vorliegen. Ist dieser Fall gegeben, ist Selektion unausweichlich.

Selektion gibt es allein schon deshalb, weil es unterschiedliche Elementarteilchen gibt, die (fast) nie isoliert, sondern (nahezu) ausnahmslos im Verband mit anderen Elementarteilchen existieren können. Zu ihren elementaren Eigenschaften gehört nämlich, mit anderen in Wechselwirkung zu treten. Aber nur ganz bestimmte Elementarteilchen in bestimmter Zahl lagern sich zusammen und lassen damit ein System höherer Ordnung mit Eigenschaften neuerer Qualität entstehen. Es gibt nirgends einen Überschuß freier atomkernbildender Elementarteilchen eines bestimmten Typs. Der Atomkern bildet zusammen mit Elektronen ein Atom.

92 natürliche Elemente kommen vor. Aufgrund der Eigenschaften ihrer äußeren Elektronenhüllen können sie gegebenenfalls miteinander reagieren und damit wiederum eine neue Organisationsform höherer Komplexität - ein Molekül - bilden. Ausschlaggebend ist dafür das Phänomen der Komplementarität, des Zueinanderpassens. Einer der Reaktionspartner (Atome) liefert Elektronen, der andere nimmt sie auf oder beide steuern je ein Elektron zur Bildung eines gemeinsamen Elektronenpaares bei. Auch die Kristallbildung beruht auf einer Zusammenlagerung gleichartiger (oder einander komplementärer) Einheiten unter Ausschluß aller übrigen. Das ist jetzt alles zwar stark vereinfacht gesagt, kann aber an dieser Stelle genügen, um die Bedeutung der Komplementarität für die Selektion herauszustreichen. Und noch ein Beispiel für Selektion, mit dem wir zielstrebig auf die Biologie zusteuern können: Keines der 92 Elemente ist so vielseitig in bezug auf Molekülbildung wie der Kohlenstoff. Es gibt in Organismen fast kein kohlenstofffreies Molekül. Aber: Das Sortiment der Moleküle in Organismen umfaßt bei weitem nicht alles, wozu der Kohlenstoff fähig ist. Organische Chemiker haben in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von neuen Molekültypen synthetisiert, die es in keiner Zelle gibt. Genannt seien hier nur die zahlreichen Polymere aus denen die verschiedensten synthetischen Farb- und Kunststoffe bestehen, sowie die erst vor wenigen Jahren entdeckten Fullerene.

Doch wie kommen wir von hier zur Biologie, zu Leben und zur Evolution ? Wir müssen versuchen, das Entstehen zunehmend komplexerer Strukturen und Funktionen nachzuvollziehen. Keine Evolutionstheorie beschreibt exakt die aufeinanderfolgenden Vorgänge. Es lassen sich daher nur Fragen der Art stellen: Was wäre, wenn? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine Entwicklung ablaufen und/oder eine bestimmte Form entstehen kann? Zu welchen Folgen führt eine solche Entwicklung, welche anderen Systemkomponenten werden durch sie beeinflußt? Es muß zu jedem Zeitpunkt eine Bestandsaufnahme erfolgen, um von daher die Fragen neu zu stellen. Die Antworten müssen so beschaffen sein, daß sie mit Beobachtungen und/oder experimentellen Befunden in Einklang gebracht werden können.

Bevor die Evolution lebender Systeme diskutiert werden kann, zunächst noch zwei Aussagen aus dem Bereich der experimentellen Chemie:

  1. Es wurde gezeigt, daß nahezu alle in Zellen nachgewiesenen kleinen Moleküle unter abiotischen Bedingungen synthetisiert werden können (S. MILLER, 1955).

  2. Unter bestimmten abiotischen Bedingungen können kleine Moleküle (z.B. Aminosäuren und Nukleotide) zu Makromolekülen (Polypeptiden, Proteinoiden und Polynukleotiden) polymerisieren (S. W. FOX, 1965, L. E. ORGEL, 1973).

Genau diese Makromoleküle bilden die wichtigsten Funktionselemente einer jeden Zelle. Polymere repräsentieren ihrerseits wiederum eine höhere Komplexitätsebene. Sie zeichnen sich gegenüber kleinen Molekülen (Untereinheiten, aus denen sie aufgebaut sind) durch Eigenschaften neuer Qualität aus. So können Proteinoide katalytische Eigenschaften haben, wenngleich nicht der hohen Effizienz und Spezifität "moderner" Zellproteine (Enzyme) und sie haben die Tendenz, zu größeren Komplexen (z.B. Mikrosphären, = Hohlkugeln bestimmter Größe, bestehend aus vielen, einander ähnlichen Proteinoidmolekülen) zu aggregieren. Man spricht daher von Self-Assembly oder Selbstorganisation. Das Aggregationsvermögen beruht auf der Ausbildung von schwachen Wechselwirkungen (elektrostatische Interaktionen, van der Waals Kräfte, Wasserstoffbrücken u.a.). Eine jede dieser Wechselwirkungen oder Interaktionen ist weit schwächer als eine chemische (kovalente) Bindung; sie können sich jedoch summieren und auf diese Weise extrem starke Verbände bilden. Nahezu alle biologischen Strukturen werden auf diese Weise stabilisiert, seien es Molekülteile einer Polypeptidkette, die sich zu einer funktionellen dreidimensionalen Struktur falten, seien es die beiden einander komplementären DNS-Stränge, die sich zu der Watson-Crick Doppelhelix vereinen, oder bestimmte Protein- und Nukleinsäuremoleküle, die ein funktionelles Ribosom (eine elektronenmikroskopisch sichtbare Struktur) bilden.

Membranen, durch die der Zellinhalt von der Umgebung getrennt wird, und von denen auch die einzelnen Kompartimente einer Zelle umgeben sind, bestehen aus Lipiden und Proteinen, welche ausschließlich durch schwache Wechselwirkungen zusammengehalten werden; auch die Zellen in einem jeden Vielzeller, ganz gleich ob Mensch oder Pflanze, bilden auf diese Weise stabile Verbände; Geschlechtszellen erkennen den richtigen Partner, weil sie auf ihren Oberflächen einander komplementäre Moleküle (Effektoren und Rezeptoren) tragen, die vor der Vereinigung der Zellen einen molekularen Komplex bilden. Es kann somit zwischen fremd und nichtfremd unterschieden werden, eine Spezifität ist gewährleistet. Selbst das Anhaften von Pollen am Körper eines Insekts beruht auf solchen (hier aber eher unspezifischen) Interaktionen. Die mangende Spezifität beruht ihrerseits auf dem Fehlen einander komplementärer Muster an den Oberflächen der beiden Reaktionspartner (Pollen, Insekt).

Durch schwache Wechselwirkungen stabilisierte Strukturen verfügen über einen Satz neuer Eigenschaften. Je stärker der Grad an struktureller Komplementarität ist, desto mehr schwache Wechselwirkungen werden gebildet und desto stabiler ist der Komplex. An dieser Stelle mag der Vergleich mit dem System Schloß und Schlüssel angebracht sein. Nur ein Schlüssel, dessen Struktur komplementär zu der des Schlosses ist, paßt und schließt.

Andererseits lassen sich schwache Wechselwirkungen unter gewissen Umständen wieder lösen, und auch diese Eigenschaft ist im Verlauf der Evolution von Organismen ausgiebig genutzt und optimiert worden: Proteinmoleküle (z.B. die biologischen Katalysatoren, die Enzyme) können unter der Einwirkung von anderen Molekülen ihre Struktur verändern, ihre katalytische Aktivität sinkt oder steigt - und das heißt, daß ihre Aktivitäten regulierbar sind (wieder eine Eigenschaft neuer Qualität); in Membranen können spezifisch gebildete, nur zeitweilig offene Poren entstehen, die einen Durchtritt ganz bestimmter Moleküle von innen nach außen (oder umgekehrt) gewährleisten (Semipermeabilität); die Membranen zweier benachbarter Zellen können sich am Kontaktpunkt lösen und sich anschließend zu einer einheitlichen, die beiden Zellen umschließenden Membran vereinen, so z.B. bei der Fusion von Geschlechtszellen (Befruchtung). Manche Zellen besitzen die Eigenschaft, Gewebeverbände zu durchwandern, wobei sich vorübergehend die Kontakte zwischen benachbarten Zellen lösen. Und schließlich unser Pollen-Insekt-Beispiel: der Pollen ist leicht abstreifbar und kann somit gegebenenfalls auf eine Narbe übertragen werden. Ob er allerdings hier oder ganz woanders landet, hängt nicht allein von dem besagten Anheften am Insekt, sondern vor allem von dessen Verhalten ab. Überall ist Selektion mit im Spiel. Gerade die schwachen Interaktionen bilden eine entscheidende Voraussetzung zur Entstehung, zur Evolution und zum Erhalt lebender Systeme.


Was ist Leben ?


Was kennzeichnet aber ein lebendes System gegenüber einem toten oder einer Ansammlung von Molekülen. Ganz allgemein gesagt, die Moleküle müssen unentwegt in direkter Beziehung zueinander stehen, es muß eine Ansammlung der "richtigen" Moleküle sein, alle molekularen Interaktionen müssen nach einem regulierbaren Programm ablaufen und Kontinuität (= Wachstum und Vermehrung) muß gewährleistet sein. Wie läßt sich hiermit jedoch die Evolution einer ersten Zelle oder einer Vorstufe von ihr erklären? Der Göttinger Biophysiker M. EIGEN hat sich seit Beginn der siebziger Jahre mit diesen Problemen befaßt. Er postulierte, daß die physikochemischen Gesetze sich seit Beginn der Evolution nicht geändert haben und er ging von der Erkenntnis aus, daß alle lebenden Zellen Proteine und Nukleinsäuren enthalten. In Abwandlung der Frage, was zuerst da war, die Henne oder das Ei fragte er, ob es eine Evolution allein mit Proteinen oder allein mit Nukleinsäuren hätte geben können. Beide Alternativen konnte er ausschließen. Proteine haben zwar katalytische Eigenschaften und können zu zellähnlichen Gebilden aggregieren, sie können aber keine Evolution bewirken, weil Änderungen in einem solchen System nicht gespeichert werden. Nukleinsäuren allein können ebenfalls nicht zu stabilen lebenden Systemen führen. Sie können sich zwar selbst replizieren, in geringem Maße auch katalytische Eigenschaften entwickeln und Informationen tragen, doch ist die Replikation (Verdopplung der beiden Stränge einer Watson-Crick Doppelhelix) nicht fehlerfrei; Stabilität ist damit nicht gewährleistet. Erst eine Wechselwirkung zwischen Nukleinsäuren und Proteinen führt zu einem stabilen System, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die an der Wechselwirkung beteiligten Einheiten müssen sich zu einem Hyperzyklus zusammenschließen. Das heißt: Es muß eine katalytische Kompetenz eines Proteinmoleküls genutzt werden, um die Fehlerrate bei der Replikation einer Nukleinsäure auf ein Minimum zu reduzieren. Diese Nukleotidsequenz ihrerseits muß zugleich eine Information enthalten, die zur Instruktion gerade dieses bestimmten Proteinmolekültyps dient. Die statistischen Wahrscheinlichkeiten, die zur Entstehung eines Hyperzyklus und zur Selektion des richtigen führen, wurden ermittelt. Nichts spricht dagegen, daß sich solche Prozesse auf der Erde zu Beginn der Evolution lebender Systeme entwickelt haben. Einige der Teilschritte können unter Laborbedingungen simuliert werden. (EIGEN, 1971, EIGEN und WINKLER, 1975, EIGEN, 1987). Keine der hier vorgestellten Annahmen belegt die Existenz eines ganz bestimmten Schrittes, keine der Annahmen sagt genau, wie ein solcher Hyperzyklus ausgesehen haben mag. EIGENs Theorie ebenso wie die von DARWIN gibt lediglich einen Rahmen vor, der festlegt, daß keine der Annahmen und keiner der Einzelschritte im Widerspruch zu physikochemischen Gegebenheiten und/oder Beobachtungen an Organismen (Arten) steht.

Nicht umsonst heißt EIGENs 1975 erschienenes Werk "Das Spiel". Jedes Spiel, z.B. ein Schachspiel, läuft nach einigen wenigen, jedermann geläufigen Regeln ab, auch das Ziel ist vorgegeben, nicht aber die Strategie, mit der das Ziel erreicht werden kann. Gerade beim Schachspiel hat es sich gezeigt, daß auch die heutige Computergeneration und die entwickelten Programme keine Garantie dafür bieten einen, versierten Spieler zu schlagen.


Hyperzyklustheorie und die Entstehung primitiver Zellen


Die Hyperzyklustheorie beinhaltet einige weitere Aspekte:

  1. Die Reaktionen können nur in einem kleinen, halbwegs abgegrenzten Reaktionsraum stattgefunden haben. Der Hyperzyklus würde sofort zusammenbrechen, wenn eine der essentiellen Komponenten durch Diffusion verlorengehen würde. Die Abgrenzung ihrerseits impliziert die für die Biologie typische Dichotomie zwischen "lebendem System" und seiner Umwelt.

  2. Der Begriff Hyperzyklus mag in gewisser Hinsicht irreführend sein, denn wir haben es nicht mit einem Kreisprozeß zu tun, bei dem ein Molekül mit einem anderen in Wechselwirkung tritt und dieses dann auf das erste zurückwirkt. Vielmehr repräsentiert ein Hyperzyklus eine Kette aufeinanderfolgender Reaktionen: Ein Nukleinsäuremolekül instruiert die Bildung eines neuen Proteinmoleküls und das wiederum katalysiert die Replikation (Vermehrung) der Nukleinsäure, dann wird wiederum ein weiteres Proteinmolekül gebildet und so fort. Mit andern Worten, wir haben es mit einer Wachstumsfunktion zu tun und damit ein essentielles Kriterium lebender Systeme erreicht. Wachstum, damit auch Vermehrung, bedeutet, daß diese Systeme und die notwendigen Systemkomponenten im Überfluß produziert werden müssen, um Zerfallstendenzen entgegenzuwirken und eine Stabilität zu gewährleisten. Daraus folgt aber auch, daß sich die Kontinuität lebender Systeme nicht auf die Strukturelemente selbst bezieht. Diese (z.B. Moleküle, Makromoleküle, Zellen und Organismen) haben nur eine begrenzte Lebensdauer. Die Kontinuität ist allein durch ihre Eigenschaften bedingt, vor allem durch die Fähigkeit, (genetische) Information auf nachfolgende Zyklen (Generationen) zu übertragen und damit die Synthese gleichartiger oder verbesserter (systemfördernder) Strukturelemente zu instruieren.

  3. Die im Nukleinsäuremolekül enthaltene Information hat einen bestimmten Wert (einen Selektionswert). Diese Information ist unter vielen denkbaren Informationen selektiert worden. Der Hyperzyklus ist damit ein Beispiel dafür, daß sich die DARWINsche Selektionstheorie auch auf Systeme niederer Hierarchieebenen anwenden läßt. Außerdem: Ein Hyperzyklus ist zu einer Evolution fähig.

"Evolution bedeutet Optimierung funktioneller Effizienz" schreibt M. EIGEN (1987). Das Wachstum und damit auch Vermehrung der funktionellen Einheiten eines Hyperzyklus muß schneller erfolgen als die Zerfallsrate der Moleküle. Der "Feind" in der Umwelt ist die thermisch bedingte Molekularbewegung. Um aber zu wachsen und sich zu vermehren, werden Ausgangsstoffe und Energie benötigt, und beides war schon immer knapp. Überleben konnte daher nur ein solcher Hyperzyklus, der mit den Ressourcen besonders effizient umgehen konnte. Wie schon dargelegt, können zwar alle benötigten Komponenten unter abiotischen Bedingungen entstehen, aber wohl nicht in den benötigten Mengen und am richtigen Ort, denn jeder Wachstumszyklus steigert den weiteren Bedarf. Die Selektion wird folglich einen solchen Hyperzyklus begünstigen, der nicht nur sich selbst erhält, sondern der auch in der Lage ist, die benötigten Ausgangssubstanzen selbst zu produzieren. Er muß demnach genetische Information ansammeln, die zur Instruktion der Bildung solcher Proteine dient, welche für die Synthese von kleinen Molekülen, wie Aminosäuren, Nukleotiden u.a. benötigt werden. Die Folge davon ist die Evolution von zunächst einfachen, dann von regulierbaren Biosyntheseketten und schließlich von Biosynthesenetzwerken, so wie wir sie heute in jeder Zelle, ganz gleich, ob Mikroorganismus, Pflanze oder Tier vorfinden. Es hat sich letztlich nur der Hyperzyklus bewährt, der die Eigenschaften entwickelte, die wir heute zusammenfassend als Stoffwechsel bezeichnen.

Schon bei der Besprechung des einfachen Hyperzyklus wurde vermerkt, daß die Reaktionen in einem halbwegs abgegrenzten Reaktionsraum stattgefunden haben mußten. Das kann alles mögliche gewesen sein, Felsspalten, evtl. sogar Mikrosphären. Mit zunehmender Komplexität stieg der Wert aller am System beteiligten Komponenten und daher bestand ein Selektionsdruck, einen spezifischen Reaktionsraum zu entwickeln. Wie immer das auch geschehen sein mag, durchgesetzt hat sich nur die jede Zelle umschließende Einheitsmembran aus Lipiden und Proteinen. Sie trennt Innen von Außen, sie ist stabil genug (sofern es keine gravierenden osmotischen Druckunterschiede zwischen innen und außen gibt), und sie verfügt über die Eigenschaft bestimmte Moleküle aufzunehmen und andere wieder abzusondern. Es fehlt nicht mehr viel, um von einer primitiven Zelle sprechen zu können. Die Membran hat noch einen weiteren unschätzbaren Vorteil: Ihre innerste Schicht wirkt als Isolator, es kann sich daher ein elektrisches Potential zwischen innen und außen aufbauen, und der Clou im Verlauf der Zellevolution bestand darin, die im Membranpotential gespeicherte elektrische Energie in chemische Energie umzuwandeln. Die Umwandlung erfolgte über eine Reihe von Zwischenstufen; es entwickelten sich Elektronentransportketten, an denen Membranproteine beteiligt sind. Das Endprodukt ist die "Leitwährung" einer jeden Zelle: ATP, ein Molekül, in dem chemische Energie gespeichert ist, welche leicht zur Realisierung der verschiedensten biosynthetischen Reaktionen verwendbar ist. Der Ausdruck Elektronentransportkette beschreibt, daß es einen Elektronenfluß gibt, es müssen also genügend Elektronen auf der richtigen Membranseite zur Verfügung stehen, doch auch hier stellen sich bald Engpässe ein. Der nächste Trick beruht auf der Ausnutzung des stets in ausreichender Menge verfügbaren Sonnenlichts. Es bedurfte daher einer Umwandlung eines Photonenflusses (=Licht) in einen Elektronenfluß. Das hat funktioniert, das Ergebnis ist die Evolution der Photosynthese, zunächst ganz primitiv, aber zunehmend effizienter.


Wie entwickeln sich Zellen weiter ?


Von nun ab mußte die Evolution der Organismen (zu dem Zeitpunkt noch relativ einfache, prokaryotische Zellen) eine ganz andere Richtung einschlagen, die Photosynthese entwickelte sich zum effizientesten Prozeß einer Energiegewinnung, der jemals auf der Erde erfunden wurde. Es entstanden dabei jedoch gewaltige Mengen an Abfall: Sauerstoff sammelte sich in der Atmosphäre und erreichte schließlich den heutigen Wert von 20%, ferner fiel Biomasse an, denn alle gebildeten Zellen haben nur eine beschränkte Lebensdauer. Die in der Biomasse enthaltene chemische Energie konnte von anderen Zellen genutzt werden. Ein solcher Energiegewinn (Gärung) wird als heterotrophe Lebensweise bezeichnet. Es gibt gute Hinweise darauf, daß sich aus solchen Zellen, die im Überfluß lebten, große amöboidartige Formen entwickelten, aus denen dann später die eukaryotischen Zellen (also Zellen mit einem echten Zellkern) hervorgingen. Viel gefährlicher war das Problem des atmosphärischen Sauerstoffs. Photosynthesetreibende Zellen wurden damit zu den größten Umweltverschmutzern in der damaligen Umwelt. Es müssen viele Zellen, viele Arten ausgestorben sein. Übrig blieben nur solche, die sich vor dem Sauerstoff schützen konnten und die schließlich den Sauerstoff sogar benötigten. Die Nutzung des Sauerstoffs zur optimalen Verwertung chemischer Energie (Entstehung der Atmungskette) erfolgte durch Modifikation (Abänderung) einer bereits vorhandenen photosynthetisierenden Elektronentransportkette. Das heißt, daß im Verlauf der Evolution nicht alles neu erfunden wurde, sondern, daß bestehende Funktionseinheiten neue Funktionen übernehmen konnten.

Dieses Prinzip gilt auch für übergeordnete Komplexitäts- und Systemebenen: Anaerob lebende große amöboide Zellen nahmen prokaryotische, aerob lebende Zellen (Zellen, die eine Atmungskette entwickelt haben) auf und lebten seitdem in Symbiose mit ihnen. Ein großer Teil der genetischen Information (des Prokaryoten) ging im Laufe der Zeit verloren, ein Teil wurde ins Wirtszellgenom überführt, und ein Rest verblieb in der prokaryotischen Zelle, die alsdann zu einem Zellorganell (hier: einem Mitochondrion) degenerierte. Wichtig war der Erhalt einer intakten, sie umschließenden Membran, denn nur sie garantierte das Fortbestehen der Elektronentransportkette - und um die ging und geht es primär. Das durch Symbiose entstandene neue System ist eine eukaryotische, aerob lebende Zelle (Endosymbiontenhypothese). Es sei vermerkt, daß der Begriff "Symbiose" in der klassischen Biologie ein Zusammengehen zweier Organismen (Arten) zum beiderseitigen Nutzen (bei Wahrung der eigenen Identität) meint. Bei der hier skizzierten Endosymbiose ist die Identität und Unabhängigkeit beider Partner irreversibel verlorengegangen. Ihre Herkunft war nur durch Indizien festzustellen.

Einige der so entstandenen Zellen nahmen zu einem späteren Zeitpunkt in einem weiteren Zyklus der Endosymbiose photosynthesetreibende Prokaryoten auf und entwickelten sich damit zu pflanzlichen Zellen. Diese allerdings standen dadurch wieder vor einem neuen Problem, denn bei der Photosynthese werden aus kleinen Molekülen, die die Membran in beiden Richtungen leicht passieren können (Wasser und Kohlendioxyd) etwas größere (Zuckermoleküle), die in der Zelle angereichert werden und damit deren osmotischen Druck beträchtlich erhöhen, so daß die Zelle über kurz oder lang platzen würde. Um dem zu entgehen, können die Zuckermoleküle (Assimilate, Photosyntheseprodukte) entweder polymerisiert werden (es entsteht ein osmotisch weniger wirksames Polysaccharid, z.B. Stärke), oder sie werden ausgeschieden; so etwas gibt es, bedeutet für die Zelle aber einen enormen Energieverlust. Vorteilhaft ist es nunmehr, ausgeschiedene Zuckermoleküle außerhalb der Membran zu polymerisieren. Die Folge davon ist die Bildung einer Zellwand, die dem inneren osmotischen Druck der Zelle entgegen wirken kann. Auch hier wurde von schwachen Wechselwirkungen Gebrauch gemacht. Pflanzliche Zellwände bestehen meist aus dem Polysaccharid Cellulose, dessen Moleküle durch Wasserstoffbrücken zusammengehalten werden, die sich während des Wachstums einer Pflanzenzelle lösen. Somit können weitere Cellulosemoleküle in die Wand eingelagert werden. Die Zelle vergrößert sich durch Streckungswachstum.

Wie kann man trotzdem noch Energie sparen? Durch Arbeitsteilung und durch Verzicht auf Leistungen, für die genetische Information vorhanden ist. Arbeitsteilung (Spezialisierung) ließ sich durch die Entstehung von Vielzellern erreichen, in denen die meisten Zellen nur einen geringen Teil der tatsächlich vorhandenen genetischen Information nutzten. Voraussetzungen dafür sind die Evolution von Abhängigkeiten der Zellen voneinander, von Informationsübertragungssystemen, von Regulationsmechanismen, von Mechanismen zur Koordination der Aktivitäten verschiedener Zellen und von Mechanismen, die die "Nichtnutzung" (Repression) genetischer Information sicherstellen.

Ein wesentliches Element regulierter Systeme ist die negative Rückkopplung. Eine der Systemkomponenten wirkt auf die Aktivität einer vorangegangenen ein und inhibiert sie. Die schon erwähnten mobilen genetischen Elemente spielen hierbei offensichtlich eine herausragende Rolle. In diesem Zusammenhang muß eine weitere Erkenntnis der Molekularbiologie genannt werden: Fast alle Eukaryoten besitzen in ihrem Genom weit mehr DNS als zur Aufrechterhaltung ihrer Existenz und ihrem Evolutionspotential benötigt wird. Ein großer Teil der DNS ist nicht-codierend. Es sieht so aus, als würde er für Regulationsprozesse benötigt, aber selbst von potentiell codierender DNS wird nur ein geringer Anteil genutzt. In spezialisierten Zellen eines Vielzellers ist der Anteil noch geringer. Differenzierungsprozesse zeichnen sich durch Aktivierung bestimmter Gene bei gleichzeitiger Inaktivierung der meisten übrigen aus. Allein hieran zeigt sich die eminent wichtige Rolle der negativen Rückkopplung. Der Genüberschuß in den Genomen stellt ein (leicht?) reaktivierbares Evolutionspotential dar, das sicher eine der Ursachen einer effizienten und schnellen Evolution der Eukaryoten (speziell einiger bestimmter Gruppen: Blütenpflanzen, Säugetiere) ist.

Evolution setzt Veränderungen voraus, aber nicht alles, was veränderbar wäre, wird verändert. Wie schon vermerkt - von M. EIGEN deutlich ausgesprochen - spielt in der Evolution die Qualität "Wert" eine eminent wichtige Rolle. Alles was sich bewährt hat, wird beibehalten und es werden Mechanismen entwickelt, Werte zu erhalten. Wertmindernde Abänderungen fallen der Selektion zum Opfer. Das heißt zwangsläufig, daß lebende (= wachsende, sich vermehrende) Systeme zunehmend komplexer werden müssen, denn zum Bewährten darf nur Neues hinzugefügt werden. Nachdem sich die Wechselwirkung zwischen Proteinen und Nukleinsäuren bewährt hatte, wurde sie unverändert beibehalten. Nachdem sich der Zellstoffwechsel entwickelt hatte, blieb er unverändert. Änderungen durfte es danach nur noch auf der Ebene der Zell-Zell-Interaktionen geben, und das führte wie schon gesagt, zur Entstehung vielzelliger Organismen. Wir erhalten Systeme auf unterschiedlichen Hierarchieebenen. Da es aber grundsätzlich keine fehlerfreien physikalischen Systeme (und damit auch keine fehlerfreien lebenden Systeme) gibt, bedurfte es der Evolution ausgeklügelter Kontrollmechanismen, die einen Systemzusammenbruch verhindern wenn Fehler in einem der Untersysteme auftauchen. So ist z.B. gezeigt worden, daß sich in allen daraufhin untersuchten Proteinen im Laufe der Zeit Änderungen (Punktmutationen) ansammeln, ohne daß die Eigenschaften der Proteine dadurch nachhaltig beeinträchtigt werden. Diese Befunde wurden als Argument für eine Nichtdarwinistische Evolution (Neutralitätstheorie) herangezogen. Aus der Informationstheorie wissen wir jedoch, daß Redundanz einer der wirkungsvollsten Mechanismen zur Fehlerkorrektur ist. Jeder Information kann ein Rauschen überlagert sein, ohne den Informationsgehalt zu gefährden. Der Selektionswert der genannten Veränderungen in Proteinen liegt daher darin, daß sie toleriert werden können, weil sie funktionell (nahezu) gleichwertig sind. Selektiert wird das übergeordnete System (hier: Zelle oder vielzelliger Organismus), dessen Funktion auf der Integration einer großen Zahl verschiedener Gene beruht. Alle Systemkomponenten stehen in einem (Fließ-)Gleichgewicht zueinander, das seinerseits Fluktuationen der Leistungen oder Eigenschaften der Systemkomponenten kompensieren kann.

Im Verlauf der Entstehung (Entwicklung) eines Vielzellers spielen sich zwischen den beteiligten Zellen zahlreiche Interaktionen ab, die letzlich zur Etablierung bestimmter Muster (Formen) führen. Die Formbildung ist artspezifisch, sie wird also durch das Genom der Zellen gesteuert; darüber hinaus weiß man aber auch, daß äußere Einflüsse (z.B. Licht oder Ernährung) die Entwicklung eines Organismus nachhaltig beeinflussen, gegebenenfalls sogar irreversible Entwicklungsschäden hervorrufen. H. MEINHARDT und A. GIERER (1974) und H. MEINHARDT (1978) zeigten, daß Musterbildung ein allgemein biologisches Phänomen ist. Es genügen meist zwei bis drei Ausgangssubstanzen (Produkte von Biosyntheseketten und damit letztlich Produkte nur weniger Gene), um bei geeigneter Wechselwirkung (Stichworte: Aktivator, Inhibitor, Effektor und Rezeptor, sowie Gradienten) zu Mustern zu gelangen, die uns an und in allen vielzelligen Organismen begegnen. Die Zahl der Wechselwirkungen kann beliebig hoch sein, integriert werden dabei sowohl Umweltfaktoren als auch genetisch bedingte. Die Interaktionen können durch einen Satz von Differentialgleichungen beschrieben werden. Als Ergebnis erhält man Modelle, die zwar bei weitem nicht so vollkommen und komplex wie die Baupläne vielzelliger Organismen sind, sie verdeutlichen aber, wie genetische Information (in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren) in morphologische Formen übersetzt werden kann und in welche Richtung die Forschung der nächsten Jahre zu laufen hat, um die Modellvorstellungen zu verifizieren. Interessanterweise gibt es zwischen dem EIGENschen Hyperzyklusmodell und der MEINHARDT-GIERERschen Musterbildungstheorie Gemeinsamkeiten: Eine der benötigten Komponenten wirkt autokatalytisch, das heißt sie wird für die Eigensynthese benötigt (Nukleinsäure im Hyperzyklus, Aktivator bei der Musterbildung), zugleich stimuliert oder instruiert sie die Bildung einer zweiten Komponente (Protein, bzw. Inhibitor). Dem Protein (im Hyperzyklus) und dem Inhibitor (bei der Musterbildung) fällt nur eine Aufgabe zu, nämlich die Beeinflussung der Nukleinsäuresynthese beziehungsweise die Hemmung der Aktivatorsynthese(-wirkung). In beiden Fällen haben wir es mit Rückkopplungen zu tun. der Unterschied zwischen beiden liegt liegt jedoch darin, daß die Rückkopplung beim Hyperzyklus positiv ist und damit Wachstum verursacht, während sie bei der Musterbildung negativ ist, wodurch ein Regelkreis induziert wird, der die Regelmäßigkeiten bei der Musterbildung (Wechsel von Aktivitätsmaxima und -minima) verständlich macht.

Baupläne (im Tier- und Pflanzenreich) gehören mit zu den bestuntersuchten Aspekten der Biologie. Auch sie enthalten konservierende Elemente und gehören daher zu sichersten Stützen der Abstammungslehre. Schließlich, um wieder zu DARWINs Beobachtungen zurückzukehren: Organismen (Individuen) kommunizieren untereinander und reagieren auf ihre Umwelt. Mit zunehmender Komplexität - vor allem der tierischen Organismen - stieg auch deren Kompetenz, Informationen über ihre Umwelt zu gewinnen. Die Entstehung und Evolution von Sinnesorganen war die Folge, gleichzeitig nahm die Komplexität des Nervensystems zu, so daß die Flut an Informationen aus der Umwelt zunehmend besser verarbeitet werden konnte und zu einem "zweckmäßigen" Verhalten führte. Informationen werden im einfachsten Fall in Form von Signalen (chemischen oder physikalischen Reizen) wahrgenommem und mit stereotypen Reaktionen beantwortet (Flucht, Angriff usw.). Mit zunehmender Höherentwicklung stieg das Repertoir an Verhaltensweisen. Speicherung gewonnener Information wurde zur Voraussetzung erlernten Verhaltens und ganz allgemein von Lernvorgängen. Beim Menschen kommt noch die Fähigkeit zum Denken hinzu, dem Verarbeiten von Erlerntem und Erfahrenem, der Einstellung des Verhaltens auf Ereignisse in der Zukunft, und die Weitergabe seines Wissens durch Sprache, später auch durch Schrift und inzwischen auch durch elektronische Medien. Eine Voraussetzung für die Entwicklung dieser neuen Qualität der Informationsverarbeitung setzt ein Vorhandensein eines Überschusses an Neuronen (Nervenzellen) und neuronalen Verknüpfungen im Gehirn voraus. Es müssen weit mehr sein als zur Aufrechterhaltung bereits etablierter Verhaltensweisen und physiologischer Funktionen benötigt werden. Menschen (und wohl eine Anzahl von Tierarten) nehmen ihre Umwelt nicht nur als Summe zahlreicher Einzelreize (Signale) auf, sondern können Bilder erkennen und als Ganzes verarbeiten und Teilbilder zu einem neuen Bild verknüpfen, d.h. gleichzeitig (in Bruchteilen von Sekunden) komplexe Informationen auswerten. Die Bildauswertung, aber auch die Verarbeitung emotionaler Eindrücke und Gefühle erfolgt anders als das Nachvollziehen logischer Entscheidungen und das Verarbeiten etwa von Texten, wie es allerdings im einzelnen geschieht, wissen wir nicht. Wir wissen allerdings, daß dabei Neuronen zu Schaltkreisen verknüpft werden und daß im Gehirn ein Bild (ein Modell) entsteht.

Menschen können Entscheidungen treffen, sie können ihre Gedanken in eine Realität umsetzen, durch die andere beeinflußt werden. Oft bleibt man mit seinen Gedanken aber auch allein oder hält sie bewußt zurück. Die Antwort "vielleicht..." weist auf eine solche Ausweichreaktion hin. Paradox genug, der Mensch ist zum logischen Denken fähig, zum Überleben wird es oft aber nicht benötigt. Es ist daher eher ein Ausdruck von Lebensqualität, wenn man seine Umwelt so wahrnimmt, wie sie sich unzerlegt präsentiert. Es gibt offensichtlich nicht nur zu viel genetische Information in einer jeden Zelle, sondern auch viel zu viele Informationen über unsere Umwelt. Im Verlauf der Evolution der Organismen haben sich wirkungsvolle Mechanismen herausgebildet, um die Expression überflüssiger genetischer Information zu unterbinden. Das war sinnvoll (auch energiesparend), es gab einen starken Selektionsdruck in diese Richtung. Warum soll es nicht auch sinnvoll sein, wenn der Mensch nicht jede Information wahrnimmt oder auswertet, mit der er konfrontiert wird oder mit der er konfrontiert werden könnte ?


Kann ein Computer denken lernen ?


Das bislang beste Modell zum Verständnis der Mechanismen menschlichen Denkens ist die jeweils letzte Computergeneration einschließlich der aktuellen Computersprachen. Sie unterliegen primär den Gesetzen der Logik, sind inzwischen aber auch schon so weit entwickelt, daß man von "denkenden Automaten" und künstlicher Intelligenz spricht. Trotz aller erreichten Erfolge gibt es noch immer keinen Computer, der eine etwas abwegige Handschrift lesen, geschweige denn ein Bild auswerten könnte. Vor allem: Computer sind - im Gegensatz zu Menschen - keine Individuen, sie können es auch nie werden. Die Computerhardware beruht auf einer Siliziumtechnologie, Silizium unterscheidet sich grundlegend vom Kohlenstoff, obwohl es auch vierwertig ist und der gleichen Periodengruppe wie der Kohlenstoff angehört. Silizium ist größer als der Kohlenstoff, folglich sind alle siliziumhaltigen Strukturen größer als die entsprechenden kohlenstoffhaltigen. Das führt zu physikalischen Problemen, wie Wärmestau, vor allem aber zu unterschiedlichen Reaktionszeiten bei Interaktionen innerhalb des Systems. Auf Siliziumbasis kann nicht das weite Spektrum an Verbindungen entstehen, für das der Kohlenstoff bekannt ist. Computertechnologen, in erster Linie die Konstrukteure der Mikrochips sind vorrangig an der Konstruktion von reproduzierbaren, unveränderbaren Strukturen (Schaltkreisen) interessiert. Hierfür ist die Siliziumtechnologie prädestiniert. Aber in den Schaltkreisen gibt es keine schwachen Interaktionen (und damit Schwachstellen), wie sie zwischen Gehirnzellen üblich sind. Gehirnzellen, wie alle Nervenzellen (Neuronen) zeichnen sich durch ein komplexes Netzwerk an Ausläufern aus. Wohl kaum eine Zelle gleicht der anderen (eine Horrorvision für jeden Computerexperten), jede steht über diese Ausläufer mit zahlreichen (wievielen?) anderen Zellen in Kontakt, mit etlichen mehr, mit anderen weniger, manches lernt sich daher vielleicht leichter, anderes weniger. Schwache Wechselwirkungen werden gelöst - ist das die Ursache für Vergessen oder dem Ausweichen vor Entscheidungen ? Alles das darf ein Computer nicht, die Materieeigenschaften determinieren logisch richtige Schaltkreise, Siliziumverbindungen können nicht das volle Spektrum der durch schwache Wechselwirkungen erzielbaren Leistungen hervorbringen. Denken bleibt somit ein vom Menschen erworbener Selektionsvorteil, der ihm allein vorbehalten bleibt.


Literatur:


DARWIN, C.: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (dt. Ausgabe). Stuttgart: E. Schweizerbartsche Verlagsbuchhandlung, 1860

DOBZHANSKY, T: Genetics and the origin of species. New York: Columbia Univ. Press, 1937

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EIGEN, M., WINKLER, R.; Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. München, Zürich: R. Piper u. Co. 1975

EIGEN. M.: Stufen zum Leben. München, Zürich: Piper 1987

FISHER, R. A.: The genetical theory of natural selection.Oxford: Clarendon Press, 1930

FOX, S. W.: A theory of macromolecular and cellular origin. Nature 205, 328 (1965)

HUXLEY, J. S.: Evolution, the modern synthesis. London: G. Allen and Unwin, 1942

MAYR, E.: The growth of biological thought. Cambridge (Mass.): The Belknap Press, 1982

MEINHARDT, H., GIERER, A.: Application of a theory of biological pattern formation based on lateral inhibition. J. Cell Sci. 15, 321 (1974)

MEINHARDT, M.: Models for the ontogenetic development of higher organisms. - Rev. Physiol. Biochem. Pharmacol. 80, 47 (1978)

MILLER, S. L.: Production of some organic compounds under possible primitive earth conditions. J. Am. Chem. Soc. 77, 2351 (1955)

ORGEL, L.: The origin of life. Molecules and natural selection London: Chapman and Hall, 1973

STEBBINS, G. L.: Variation and Evolution in plants. New York: Columbia Univ. Press, 1950

WRIGHT, S.: Evolution in mendelian populations. Genetics 16, 97 (1931).


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