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Evolution: Überblick und offene Probleme.
C. DARWIN und seine Selektionstheorie





Überblick und offene Probleme

Evolution ist der Vorgang, der zur Entstehung der Organismenvielfalt geführt hat. Es gilt heute als unbestritten, daß sich jede Art aus primitiveren Vorfahren entwickelt hat, komplexe Systeme aus einfachen hervorgegangen sind und sich die Anpassung (Adaptation) von Organismen zunehmend verbessert hat. Wie an anderer Stelle dargelegt, hat die Menschheit in ihrer Kulturgeschichte schon sehr früh erkannt, daß es eine Vererbung von Eigenschaften gibt; während ein Zusammenhang zwischen Vererbung und Evolution erst sehr spät gesehen wurde. Bis ins letzte Jahrhundert hinein hielt sich die Meinung, die Vielfalt der Arten habe es schon immer gegeben und Artmerkmale seien konstante Eigenschaften.

Mit der Zeit sammelten sich jedoch Beweise dafür, daß es im Verlauf der Erdgeschichte Veränderungen gegeben hat und daß auch die Entstehung der Lebewesen als ein historischer Prozeß zu verstehen sei. Damit war aber noch nichts über die Mechanismen und Ursachen solcher Umwandlungen gesagt. Wie im folgenden Abschnitt dargelegt wird, hat es verschiedene Erklärungsversuche gegeben. Die von CHARLES DARWIN schließlich ausgearbeitete Selektionstheorie gab eine Deutung, die heute nach Jahrzehnte dauernden, - kontrovers geführten - Diskussionen als gesichert gelten kann und als eine der wichtigsten Grundlagen der Allgemeinen Biologie angesehen werden muß.

In Kürze gesagt, beruht sie auf folgenden Erkenntnissen (Begründungen im folgenden Abschnitt):

  1. Arten sind nicht unabänderlich. Sie entstanden in einer ununterbrochenen Generationenfolge vom Zeitpunkt der Entstehung des Lebens bis hin zu den heute existierenden (rezenten) Arten.

  2. Individuen einer Art sind untereinander nicht gleich. Innerhalb einer jeden Art läßt sich für jedes Merkmal eine beträchtliche Variation feststellen.

  3. Jedes Individuum ist einer natürlichen Selektion (einem Selektionsdruck) unterworfen. Nur die der Umwelt am besten angepaßten haben eine Chance, zu überleben und sich fortzupflanzen.

Durch die Feststellungen (2) und (3) wird deutlich, daß das Individuum und nicht die Art, die Grundeinheit der Selektion ist. Der vielbenutzte Begriff "Arterhaltung" ist deshalb eigentlich fehl am Platze. In eingeschränkter Bedeutung mag er nach wie vor angebracht sein, denn trotz vorhandener Variation gibt es zwischen den Individuen einer Art in der Regel weit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, und wenn der Selektionsdruck auf die gemeinsam vorhandenen Eigenschaften wirkt, sind alle Individuen (der betreffenden Art) gleichermaßen betroffen.

Änderung und Umstrukturierung genetischer Information (Mutationen im weitesten Sinne und Rekombination) einerseits und Selektion andererseits werden als gleich wichtige und gleichwertige Ursachen einer Evolution genannt. Mutationen sind ungerichtete Ereignisse, während man in der Selektion einen orientierenden Faktor zu erkennen glaubt. Gerichtete Tendenzen (Trends, Evolutionsstrategien) sind in der Tat erkennbar, wenn man die Evolution als Summe kleiner aufeinanderfolgender Schritte betrachtet und den Versuch unternimmt, das Evolutionsgeschehen zu rekonstruieren. Die Selektion ist jedoch kein auf die Zukunft ausgerichteter Prozeß. Sie wirkt vielmehr zu jedem gegebenen Zeitpunkt, und ihr fällt alles das zum Opfer, was keinen momentanen Anpassungswert hat. Strukturen und Funktionen, die sich in der Zukunft als wertvoll erweisen könnten, haben daher keinen Selektionvorteil.

Evolution führt zu einer Akkumulation wertvoller, d.h. effektiv genutzter genetischer Information, was sich in zunehmender Komplexität vorteilhafter Strukturen und verbessertem Fortpflanzungserfolg (= Erhöhung der Fitneß) manifestiert. Solche Tendenzen bewertet man als Fortschritt. Der wiederum beruht stets auf Veränderungen. Doch nicht jede Veränderung ist mit Fortschritt gleichzusetzen; Trends in Richtung Verschlechterung werden als Regressionen bezeichnet. Evolution ist ein opportunistisches Prinzip; nur ein verschwindend geringer Prozentsatz an Änderungen führt zu Fortschritten; die meisten reduzieren die Fitneß. Wenn eine Änderung so gravierend ist, daß sich das betreffende Individuum nicht fortpflanzen kann, geht die Mutation irreversibel verloren; wird der Fortpflanzungserfolg jedoch nur geringfügig reduziert, kann sich eine solche Mutation im Genpool einer Art ausbreiten, kann dadurch über einen Zeitraum vieler Generationen hinweg schließlich zum Aussterben der betreffenden Art führen. Der Anteil ausgestorbener Arten wird von E. MAYR (1975) mit 99,999 Prozent beziffert.

Was nun aber im einzelnen vorteilhaft ist, hängt von der jeweiligen Situation ab. Immer muß die Bewertung auf einen Standard bezogen werden. Besser oder vorteilhafter bedeutet effizienter, häufiger oder komplexer als das, was vorher da war. Weil es nunmehr ein sehr großes Spektrum unterschiedlichster Umweltfaktoren gibt, bestehen auch viele voneinander verschiedene Evolutionstrends und eine Folge davon ist die Diversifikation der Organismen. Die Lebewesen haben im Zuge der Evolution alle auf der Erdoberfläche verfügbaren Lebensräume besetzt, zu denen man auch solche zählt, die erst im Verlauf der Evolution der Organismen entstanden sind (vgl. hierzu Symbiose, Parasitismus, biotische Faktoren usw.)

Zu den fortschrittlichen Entwicklungen rechnet man die Eigenart der Organismen, immer subtilere Informationen über ihre Außenwelt zu gewinnen, zu speichern und zu verarbeiten, um auf diese Weise wahrscheinliche und/oder regelmäßig wiederkehrende künftige Situationen (z.B. den jahreszeitlich bedingten Wetterwechsel) besser bewältigen zu können. Aus dieser Überlegung heraus könnte man ableiten, die Organismen hätten im Verlauf der Evolution eine steigende Unabhängigkeit von ihrer Umwelt erworben. Doch kann diese Aussage irreführend sein, denn strenggenommen gilt sie nur für die Stammeslinie des Menschen, weil nur er seine Umwelt (weitgehend) unter Kontrolle bringen und zu seinem Nutzen abändern und weil nur er Informationen über künftige Ereignisse sammeln und sein Handeln individuell und gezielt darauf einrichten kann.

Pflanzen können nur sehr wenige Umweltparameter wahrnehmen (z.B. Licht, Schwerkraft, Feuchtigkeit, Pilzinfektionen usw.) und ihnen nur durch stereotype Reaktionen begegnen (z.B. durch differenzielles Wachstum, oder bei Einzellern, durch aktive Bewegung auf eine Licht- oder andere Reizquelle zu).

Der Gewinn an Unabhängigkeit von einem Faktor wird in der Regel durch Abhängigkeit von einem neuen erkauft. Als ein Beispiel hierfür könnte man den Wechsel von Wind- zu Insektenbestäubung anführen. Der Wechsel kann aber dennoch als Fortschritt gewertet werden, weil er einmal zu einem erhöhten Fortpflanzungserfolg führt (die Verlustrate des Pollens wird reduziert) und zum anderen den Pflanzen die Möglichkeit eröffnet, neue windarme Lebensräume zu erschließen und Populationen aus u.U. weit voneinander entfernt wachsenden Individuen zu bilden.

Die Evolutionsforschung befaßt sich schon seit langem nicht mehr mit der Frage, ob eine Evolution stattfand, sondern vielmehr damit, wie sie im Detail verlaufen ist. Evolutionsforschung ist weitgehend auf Indizienbeweise (z.B. auf Fossilien) angewiesen. Man wird daher niemals mit absoluter Sicherheit sagen können, welche Ereignisse zu welchem Zeitpunkt stattfanden. Man kann aber, unter Berücksichtigung aller vorhandenen Beweise, versuchen, den wahrscheinlichsten Weg nachzuvollziehen um die Reihenfolge der Ereignisse zu ermitteln. Evolutionsforschung ist eine integrierende Wissenschaft. Um Kausalzusammenhänge aufzuklären, müssen die Wechselwirkung der Organismen untereinander und ihre Anpassung an die unbelebte Umwelt ebenso in Erwägung gezogen werden wie die Organisation und Expression ihres Genoms. Zu den interessantesten Problemen gehören z.B. die Fragen:

Wozu gibt es Arten?
Wie sind Arten entstanden?
Auf welchen Mechanismen beruhen Isolationsbarrieren zwischen den einzelnen Arten?
Welche Eigenschaften befähigen ein Individuum (eine Art), in einer konstanten und/oder in einer sich ändernden Umwelt zu bestehen und den Fortpflanzungserfolg zu sichern?
Wie kommt es, daß einzelne Organismengruppen (Taxa) erfolgreicher (individuen- und artenreicher) als andere sind und daß die Evolution einiger Gruppen schneller als die anderer erfolgt?
Welche Rolle spielen Polyploidie und Chromosomenmutationen?
Welche weiteren Möglichkeiten bestehen, das Genom zu ändern?
Welche Bedeutung kommt dabei der repetitiven DNS zu?
Wie groß ist der Anteil wertvoller (tatsächlich genutzter) genetischer Information am Gesamtgenom eines Individuums?

Wie schon dargelegt, ist die Evolutionsforschung bei der Rekonstruktion von Vergangenem auf Indizien angewiesen. Andererseits können wir aber davon ausgehen, daß schon immer die gleichen physikalisch-chemischen Gesetze gegolten haben. Wenn wir zudem die Phase der Entstehung lebender Systeme zunächst ausklammern, können wir uns darauf berufen, daß eine Vererbung nach Regeln ablief, die durch das Studium rezenter Organismen aufgeklärt werden konnten, und daß die Verschiedenartigkeit von Umwelteinflüssen nicht größer war, als wir sie heute auf der Erdoberfläche beobachten können.

Dafür, daß die Evolution ein fortwährender Prozeß ist, gibt es zahlreiche Beispiele, an denen einzelne Teilabläufe auch heutzutage durch Beobachtungen erkannt und/oder durch Experimente nachvollzogen werden können.

Der zügige Fortschritt auf dem Gebiet der Genetik beruhte zu einem nicht unerheblichen Teil auf der Wahl geeigneter Versuchsobjekte. In diesem Zusammenhang wurden Argumente für die Wahl der Fruchtfliege Drosophila melanogaster als Studienobjekt genannt. Mittlerweile hat es sich gezeigt, daß Drosophila auch ein ideales Objekt der Evolutionsforschung ist, denn

es gibt zahlreiche Drosophila-Arten (dazu kommen zahlreiche Arten nah verwandter Gattungen),
Drosophila-Arten kommen in der Natur in großen Individuenzahlen vor,
Drosophila-Arten kommen weltweit in den verschiedensten Biotopen vor,
bei allen Arten sind Änderungen der Chromosomenmuster (sie alle haben Riesenchromosomen) leicht feststellbar,
es gibt biochemische Schnellverfahren (Elektrophorese), um Allotypen und bestimmte Enzymaktivitäten (und damit den Zustand der entsprechenden Gene) simultan an einer Vielzahl von Individuen zu erfassen,
die Wirkung bestimmter Selektionsfaktoren kann unter Laboratoriumsbedingungen simuliert und quantitativ ausgewertet werden

Wie wir aber auch noch sehen werden, können nicht alle Strategien, die sich bei einer Gruppe von Organismen als erfolgreich herausgestellt haben, auf andere übertragen werden. So ist z.B. Polyploidisierung eine der wesentlichen Ursachen der Artbildung vieler Angiospermen, bei Drosophila und auch sonst im Tierreich spielt sie keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle.

Die Evolutionsforschung befaßt sich mit der Entstehung der Vielfalt an Formen und Arten, nicht jedoch mit ihrer Klassifizierung und der Erstellung praktikabler Klassifikationssysteme. Ersteres fällt der Systematik, letzteres der Taxonomie zu. In der Taxonomie ist man bestrebt, Organismen nach einem natürlichen System zu ordnen, in dem die Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse der einzelnen Taxa möglichst wirklichkeitsgetreu wiedergegeben werden. Deshalb ist die Evolutionsforschung eine wesentliche Stütze für taxonomische Entscheidungen.

Essay: The National Academy of Sciences US - Teaching about Evolution and The Nature of Science

http://books.nap.edu/html/evolution98/


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