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Geschlechtschromosomen und geschlechtsgebundene Vererbung


Ein erster stichhaltiger Hinweis für einen Zusammenhang zwischen Chromosomen und Geschlecht stammt von H. v. HENKING (1891). Er arbeitete über die Spermatogenese und deren Beziehung zur Eientwicklung der Hemiptere Pyrrhocoris apterus und fand, daß die Hälfte der Tochterzellen während der Anaphase II ein Chromatidelement mehr als die übrigen erhielt. Er war sich nicht sicher, ob es sich dabei um ein Chromosom handelt, und nannte die Struktur daher X.

Ähnliche Beobachtungen wurden in der Folge an anderen Insekten gemacht, und 1902 postulierte C. E. McCLUNG, daß das X-Element etwas mit der Geschlechtsbestimmung zu tun haben müsse. Die Bestätigung erfolgte 1905 durch E. B. WILSON (Columbia University, New York), der bei Männchen von Protenor belfragei 13 (= 2n), bei Weibchen 14 Chromosomen zählte und dem Männchen ein, dem Weibchen zwei X-Chromosomen (von ihm stammt auch dieser Begriff) zuordnen konnte.

Im Jahre 1909 fand er, daß Männchen einiger anderer Insektengattungen (Lygaeus, Tenebrio, Drosophila) neben einem X-Chromosom ein anders geformtes, wesentlich kleineres Y-Chromosom besitzen, so daß der Genotyp der Männchen mit XY angegeben werden konnte.

Da sich X- und Y-Chromosomen strukturell voneinander unterscheiden (und sich bei der Meiose daher auch nicht paaren), spricht man von Heterochromosomen, im Gegensatz zu den übrigen, den Autosomen.

Ein Jahr später entdeckte T. H. MORGAN eine Drosophila-Mutante mit weißen (anstelle von roten) Augen. Die Vererbung des Merkmals "Weißäugigkeit" (white, w) ist geschlechtsgebunden und schon 1911 konnten diese Ergebnisse mit der Verteilung der Geschlechtschromosomen korreliert werden. Die Merkmalsanlage (das Gen) für white wurde auf dem X-Chromosom lokalisiert:

XwX x XY > XwX, XwY, XX, XY oder

XX x XwY > XXw, XwX, XY, XY

Das erste geschlechtschromosomengebundene pflanzliche Gen wurde ein Jahr später (1912) von E. BAUR entdeckt. Er beschrieb eine schmalblättrige Mutante von Silene alba (=Melandrium album) und bewies durch entsprechende Kreuzungen, daß auch dieses Merkmal geschlechtsgebunden vererbt wird.

Die Existenz der geschlechtsgebundenen Vererbung bestimmter Merkmale erwies sich im nachhinein als die sicherste Stütze der Chromosomentheorie der Vererbung. Es sei betont, daß Merkmale, wie "Weißäugigkeit" oder "Schmalblättrigkeit", a priori nichts mit der Geschlechtsbestimmung (Determination des Geschlechts) zu tun haben. Das X-Chromosom und das Y-Chromosom sind demnach nicht allein für die Festlegung des Geschlechts verantwortlich, sondern sie sind gleichermaßen Träger von Genen, die geschlechtsunabhängige Merkmale beeinflussen.

Wodurch wird nun aber die Ausprägung des Geschlechts determiniert?

Es gibt darauf keine allgemeingültige Antwort. An zwei Beispielen, Drosophila melanogaster einerseits, und Silene alba (= Melandrium album) andererseits, wurde gezeigt, daß die Geschlechtsbestimmung auf unterschiedlichen Mechanismen beruht, und daß die geschlechtsbestimmenden Gene auf unterschiedlichen Chromosomen lokalisiert sein können. Bei der Bestimmung des Geschlechts von Melandrium album spielt das Y-Chromosom eine entscheidende Rolle. Die Art ist diözisch, und die Geschlechtsvererbung folgt dem klassischen Schema XX = weiblich, XY = männlich; das Y-Chromosom ist hier sehr groß. I. ONO, A. F. BLAKESLEE, H. WARMKE und M. WESTERGAARD (Literatur bei M.WESTERGAARD, 1948) analysierten unter Einsatz polyploider Rassen den Einfluß der Geschlechtschromosomen auf die Autosomen. Paralleluntersuchungen hierzu wurden von BRIDGES an Drosophila durchgeführt.

Aus den Daten geht hervor, daß die Balance zwischen den irgendwo im Autosomensatz vorhandenen Determinanten für das männliche Geschlecht, und den auf dem X-Chromosom liegenden für das weibliche bei Drosophila geschlechtsbestimmend ist. Im Gegensatz dazu ist bei Melandrium album die Anwesenheit eines Y-Chromosoms für die Bildung von Männchen ausschlaggebend. Das Y-Chromosom ist für die Bestimmung des männlichen Geschlechts so stark wirksam, daß es den Anschein hat, als würden die Autosomen und X-Chromosomen überhaupt keine Rolle spielen. In einem Fall hingegen (Zeile 22) sieht man, daß auch bei Melandrium ein Balancemechanismus zum Zuge kommen kann. Offensichtlich tragen X-Chromosomen Weibchen-bestimmende Gene, die aber so schwach sind, daß bei Gegenwart eines Y-Chromosoms vier X-Chromosomen erforderlich sind, um dessen Einfluß zu kompensieren.

Der Drosophila- und der Melandrium-Fall dürfen jedoch nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, bei Tieren würde der eine, bei Pflanzen der andere Weg eingeschlagen, denn die Geschlechtsdetermination von Rumex acetosa z.B. folgt dem Drosophila-Schema (I. ONO, 1935, Y. YAMAMOTO, 1938).


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