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Spezialisierung


Wie schon dargelegt, spricht alles dafür, daß primitive eukaryotische Zellen amöboid gewesen sind und andere Zellen phagozytieren konnten.

Nur in seltenen Fällen kam es zu den bereits besprochenen Endosymbiosen oder zu einer Vereinigung zweier Zellen, wodurch die Wahrscheinlichkeit eines Genaustausches (einer Sexualität) erhöht wurde. Es kann als bekannt vorausgesetzt werden, daß ein Genaustausch oder eine Rekombination von Teilen zweier Genome nur dann aussichtsreich ist, wenn die beiden Partner nahezu oder vollkommen gleichartig sind (Artkonzept). Sehr wahrscheinlich hat es bereits unter den primitiven eukaryotischen Zellen eine große genetische Variabilität gegeben, was u.a. dazu führen mußte, daß viele untereinander inkompatible (unverträgliche) Genome entstanden. Die Aufnahme einer Zelle durch eine andere führte daher meist zur Lyse der gefressenen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, Schutzmechanismen zu entwickeln. Dies wiederum mag ein entscheidender Grund dafür gewesen sein, daß sich voneinander unabhängige Strategien herausgebildet haben, die zu grundlegend verschiedenen Zellformen führten:

  1. Schnell bewegliche Zellen, Flucht durch Eigenbewegung
  2. Größenzunahme und Schutz durch Ausbildung einer festen Zellwand
  3. Besiedlung von Lebensräumen, in denen sich amöboide Zellen nicht halten können.

Zu 1. Die erstgenannte Strategie führte zur Evolution der Flagellaten (und der Ciliaten). Flagellaten sind im Vergleich zu den meisten Amöben relativ klein. Bewegung ist ein energieverbrauchender Prozeß, und kleine Zellen sind deshalb großen gegenüber im Vorteil. Die Bewegung erfolgt üblicherweise durch ein bis zwei Geißeln. Bei den Ciliaten ist meist die gesamte Zelloberfläche von kurzen Wimpern, die in ihrer Struktur und Funktion den Geißeln ähneln, umgeben. Die Zellen sind rund, gestreckt oder spindelförmig. Die Zellform ist - in Grenzen - veränderbar, doch ist der Grad der Veränderbarkeit weit geringer als bei den Amöben. Die Lage der Geißel(n) markiert eine Polarität der Zelle. Oft entspringt die Geißel dem vorderen Zellpol (anterior), das gegenüberliegende Ende wird als hinterer Zellpol (posterior) bezeichnet. Viele Arten scheiden im Bereich der Geißelansatzstelle kohlenhydrathaltiges, gallertähnliches Material aus, das durch spezifische fluoreszenzmarkierte Lektine identifiziert werden kann und damit einen weiteren Marker einer Polarität abgibt. Manche Flagellaten scheiden am hinteren Ende Gerüstsubstanzen (z.B. Cellulose oder Chitin) aus und bauen damit ein spezifisch strukturiertes Gehäuse (eine Lorica) auf, das an festen Unterlagen fixiert werden kann. Diese Flagellaten nehmen daher sekundär eine sessile (sitzende) Lebensweise an (siehe dazu Punkt 3).

Euglena und Arten aus anderen systematischen Gruppen reagieren phototaktisch; sie verfügen über einen Lichtrezeptor und einen Mechanismus, der es den Zellen erlaubt, sich in Richtung auf eine Lichtquelle zu orientieren. Der Aufenthalt in lichtreichen Lebensräumen fördert die Photosyntheserate und damit den Energieumsatz und die Teilungsrate.

Zu 2. Eine Reihe primitiver, teilweise aber auch hochentwickelter rezenter Algen zeichnet sich durch eine extreme Größenzunahme einzelner Zellen aus (Acetabularia, Caulerpa, Vaucheria, u.a.), z.T. sind sie vielkernig. Die Stabilität der Form wird durch die Ausbildung einer Zellwand gewährleistet. Die Gerüstsubstanz der Zellwände der meisten grünen Pflanzen ist die Cellulose; bei einigen primitiven, meist ein- oder wenigzelligen Arten, sowie den nicht-grünen Algen (z.B. Rot- und Braunalgen) sind andere Polysaccharide vorhanden; bei einfachen, flagellatenähnlichen Formen (Chlamydomonas, Volvox u.a.) ist die Wand mehrschichtig und besteht vorwiegend aus Proteinen mit einem hohen Kohlenhydratanteil; z.T. sind die Gerüstmoleküle fibrillär organisiert .

Gegenüber den starren Mureinzellwänden der Prokaryoten bieten Zellwände aus Cellulose (und anderen Polysacchariden) den Vorteil der Elastizität. Die linearen Polymere werden nämlich "nur" durch schwache Wechselwirkungen (meist Wasserstoffbrücken) zusammengehalten, welche leicht gelöst und ebenso leicht immer wieder neu geknüpft werden können. Dieser Mechanismus ist eine wichtige Voraussetzung des für pflanzliche Zellen charakteristischen Streckungswachstums.

Im Murein hingegen werden die Monomeren nahezu ausschließlich durch starke kovalente Bindungen zusammengehalten. Die Wand einer Zelle besteht daher im Prinzip aus nur einem einzigen, in sich geschlossenen Molekül (einem Mureinsacculus), und das Bindungsmuster kann daher nur enzymatisch verändert werden. Die Synthese neuer Wandanteile erfolgt unmittelbar im Anschluß an eine Zellteilung. Eine spätere Zellvergrößerung ist in der Regel ausgeschlossen.

Die Ausbildung einer Wand bei primitiven Eukaryoten dient einerseits dem Schutz der Zellen vor dem Gefressenwerden durch Amöben, andererseits wirkt sie dem osmotischen Druck des Zellinhalts entgegen.

Zellwandlose Einzeller müssen das ins Zellinnere einströmende Wasser unter Energieaufwand ständig wieder herauspumpen. Die Ausbildung einer Wand ist zwar auch sehr energieaufwendig, über die gesamte Lebensdauer einer Zelle hinweg gesehen aber vermutlich ökonomischer als das permanente Wasserpumpen (pulsierende Vakuolen).

Zu. 3. Ein charakteristisches Merkmal pflanzlicher (und vieler tierischer) Zellen ist die Polarität. Wir haben eben gerade gesehen, daß sie auch für Flagellaten typisch ist. Offensichtlich ist die Polarität von Zellen ein wichtiger Ausgangspunkt für Spezialisierung und Differenzierung. Polarität erkennt man nicht nur an einer gestreckten Form der Zellen. Cytologische, vor allem elektronenmikroskopische Untersuchungen ergaben, daß zahlreiche Zellbestandteile asymmetrisch verteilt sind. Der intrazelluläre Verteilungsgradient bedingt unterschiedliche physiologische Aktivitäten in den einzelnen Abschnitten der Zelle.

Eine Polarität ist durch verschiedene biochemische Methoden sichtbar zu machen. Eine der Möglichkeiten besteht im Nachweis der Sekretion (Ausscheidung) bestimmter Glykokonjugate (kohlenhydrathaltiger Komponenten, z.B. Polysaccharide, Glykoproteine, Glykolipide usw.) und deren Lokalisation an Zelloberflächen durch fluoreszenzmarkierte Lektine. Viele der so nachweisbaren Glykokonjugate werden ausschließlich an beiden oder nur an einem der Pole abgesondert. Diese Ausscheidungsprodukte (Gallerten) sind geeignet, Zellen an einem festen Untergrund zu verankern. In vielen anderen Fällen dienen sie dazu, Einzelzellen zu Kolonien zusammenzuhalten.

Eine Verankerung an einem festen Untergrund ist eine der möglichen Bedingungen, um in Fließgewässern überleben zu können. Amöben können sich in solchen Biotopen nicht halten. Festsitzende (sessile) Zellen haben damit eine ökologische Nische erobert, in der sie - zunächst einmal - vor Freßfeinden geschützt waren.


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