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Karyotypen: Chromosomenzahl, Chromosomenform und verwandtschaftliche Beziehungen


An Modellbeispielen gewonnene Ergebnisse demonstrieren, daß bestimmte Veränderungen des Phänotyps auf Umstrukturierung einzelner Chromosomen (z.B. beim Mais und bei Drosophila), auf einer Polyploidisierung (z.B. bei Kulturpflanzen) oder auf Aneuploidie (z.B. bei Datura und beim Weizen) beruhen können.

Karyotypveränderungen sind somit ein sichtbarer Ausdruck der Neuorganisation von Genomen. Es lag daher nahe, einen möglichst umfassenden Überblick über die Karyotypen vieler Arten zu gewinnen, um zu prüfen, ob es Gesetzmäßigkeiten oder Tendenzen gibt, die mit der sIstematischen Stellung von Arten oder übergeordneten Taxa korrelierbar sind. Durch die Analyse von Karyotypen, bei gleichzeitiger Untersuchung der (geographischen) Verbreitung und der ökologischen Ansprüche nah verwandter Arten, ist man einen entscheidenden Schritt auf dem Wege zur Aufklärung phylogenetischer Zusammenhänge vorangekommen. Von einer endgültigen Lösung ist man jedoch noch weit entfernt, denn die Existenz gewisser - nachgewiesener - Evolutionsstrategien besagt noch nicht, daß diese allein ausschlaggebend sind.

Anfang der sechziger Jahre kannte man die Chromosomenzahlen von über 17000 Angiospermen. V. GRANT hat die ihm seinerzeit (1963) vorliegenden Werte zu einem Histogramm zusammengestellt, aus dem ihre Häufigkeitsverteilung bei den Mono- und Dikotyledonen ablesbar ist. Die niedrigste Zahl (n = 2) findet man bei der Composite Haplopappus gracilis, einen recht hohen Wert (n = ca. 250) bei einer Kalanchoe-Art. Hohe Werte sind auch für Farne typisch. Steigende Chromosomenzahlen sind in der Regel mit Abnahme der Chromosomengröße verbunden. Der Vergleich der Karyotypen verwandter Arten läßt auffallende, doch keineswegs allgemeingültige Verteilungsmuster erkennen. Bemerkenswert sind dabei:

das inter- und intraspezifische Auftreten von Zahlen, die das Ein- oder Vielfache einer Basiszahl (x) darstellen (2x, 3x, 4x, . . . nx). Wegen der besonderen Bedeutung dieser Ploidiereihen für die Frage der Artneubildung werden wir uns mit ihnen in einem gesonderten (folgenden) Abschnitt befassen.

gleiche Chromosomenzahlen bei vielen nah verwandten Arten , gelegentlich auch bei allen Arten einer Gattung (Pinus, n = 12; M. C. FERGUSON, 1904) oder Familie (Thymelaeaceae, n = 9; E. STRASBURGER, 1910). Gleiche Chromosomenzahl bedeutet keineswegs Identität der vergleichbaren Chromosomen. Beispiele für unterschiedliche Form bei annähernd gleichen Größen findet man u.a. bei mehreren Arten der Gattung Lilium. Oft zeichnen sich verwandte Arten durch unterschiedlich große Chromosomen aus.

Homologien zwischen einzelnen Chromosomen oder Chromosomenabschnitten bei verwandten Arten. Ein Beispiel: Die Unterschiede in den Karyotypen der beiden Narcissus-Arten N. bulbocodium und N. cantabricus, einem sympatrischen Artenpaar aus dem südwestlichen Mittelmeerraum, sind am einfachsten durch zwei Inversionen und drei Translokationen zu deuten.

Unterschiedliche Chromosomenzahlen und -größen bei verwandten Arten, die auf Verkleinerung der Chromosomen (DNS-Verlust), Chromosomenverlust und Translokationen zurückgeführt werden. Beispiel: nordamerikanische Arten der Gattung Crepis. Eine genaue Analyse ihrer Karyotypen ergab, daß einzelne Abschnitte untereinander homologisierbar sind, und die Abänderung der Chromosomenmuster, vor allem die Abnahme der Chromosomengröße, mit zunehmender Spezialisierung der Arten einhergeht. Als primitive (=am wenigsten spezialisierte) Arten gelten die mit n = 6 Chromosomen. Sie sind perennierend (=mehrjährig, ausdauernd). Bei Arten mit n = 5 und n = 4 nimmt der Grad der Spezialisierung zu. Neben perennierenden kommen annuelle (= einjährige) Formen vor, bei Arten mit n = 3 Chromosomen sind annuelle vorherrschend. Auch für die Regel der Chromosomenkonstanz der Arten konnten Abweichungen festgestellt werden:

Wie angedeutet, gibt es intraspezifische Rassen, die sich aufgrund ihres Ploidiegrads voneinander unterscheiden.

In einigen Familien wird die Bestimmung der Chromosomenzahl durch die Anwesenheit sogenannter B-Chromosomen (die in variabler Menge auftreten können) erschwert. Sie sind insbesondere bei den Gramineen, Liliaceen und den Compositen anzutreffen, sind meist heterochromatisch und ohne Einfluß auf den Phänotyp. Zwar sind sie in der Regel kleiner als die essentiellen, sogenannten A-Chromosomen, doch ein ungeübter Cytologe wird die Zugehörigkeit eines Chromosoms nicht immer eindeutig identifizieren.

Arten einiger Gattungen (Carex, Luzula, Scirpus, Eleocharis) sowie einzelne Arten, wie z.B. Poa alpina, zeichnen sich durch variable Chromosomenzahlen aus. Bei einer Carex-Art schwanken die Werte zwischen n = 6 und n = 66, ohne daß sich die Varianz im Phänotyp bemerkbar machen würde. Eine der dieser Variabilität zugrunde liegenden Ursachen ist das Vorhandensein diffuser (polycentrischer) oder multipler Centromere. Einerseits scheinen die Genome dieser Arten sehr gut balanciert zu sein, so daß die Abwesenheit einzelner Chromosomen durch die verbleibenden kompensiert werden kann, andererseits sind die Chromosomen in Zellen, in denen sie zahlreich sind, kleiner als in solchen, die nur wenige enthalten.

Umweltparameter können zur Selektion variabler Chromosomenmuster (lokaler Rassen) beitragen. I. FUKUDA und R. B. CHANELL (1975) analysierten die Karyotypen verschiedener Populationen der Weißen Wachsblume Trillium ovatum im Westen Nordamerikas. In der Küstenregion mit ihrem ausgeglichenen Klima und der ausgedehnten Nadelwaldzone sind keine oder allenfalls minimale Unterschiede im Karyotyp zwischen den einzelnen, meist zusammenhängenden Populationen erkennbar. Im Gegensatz dazu variieren die Karyotypen in den isolierten, relativ kleinen Populationen der Rocky-Mountains-Region Idahos und Montanas von Ort zu Ort. Diese Region ist klimatisch und geologisch vielgestaltig. Die Besiedlung durch Trillium erfolgte im Anschluß an die letzte Eiszeit. Mit der Variation der Chromosomenmuster geht eine morphologische Variation der isolierten Populationen einher.


Für die Verteilung der Chromosomengrößen lassen sich folgende Trends ausmachen (nach STEBBINS, 1971):

  1. Gymnospermen (Cycadales, Ginkgo, Coniferales) haben im Durchschnitt größere Chromosomen als die meisten übrigen Pflanzen. Sie werden jedoch von einigen Angiospermengattungen und -familien (Paeonia, Lilium, Trillium, Tradescantia, Krameriaceae, Loranthaceae) übertroffen.

  2. Holzige Angiospermen haben ausnahmslos kleine, meist schwer voneinander unterscheidbare Chromosomen. Oft sind zwischen benachbarten Arten und Gattungen kaum Unterschiede wahrnehmbar.

  3. Unter den krautigen Angiospermen kommen zwischen verwandten Arten und Gattungen beträchtliche Unterschiede in der Chromosomengröße vor. Die Gestalt der Chromosomen gibt jedoch weder einen Hinweis auf die phylogenetische Stellung der Familie, noch lassen sich Vorhersagen über die Chromosomengröße einzelner Arten machen.

  4. Unter den sporenbildenden Gefäßpflanzen haben Gattungen, respektive Familien mit Heterosporen (Selaginella, Isoetes, Marsileaceae, Salviniaceae) kleinere Chromosomen als Gruppen mit Homosporen.

Signifikant unterschiedliche Chromosomengrößen können auf zumindest zwei, z.T. einander ergänzende Ursachen zurückgeführt werden:

  1. Arten mit größeren Chromosomen verfügen im Vergleich zu denen mit kleinen (bei gleicher Zahl) über mehr aktive Gene.

  2. Arten mit großen Chromosomen verfügen über große Mengen nicht-codierender DNS (repetitive DNS, Heterochromatin).

Mit den beiden Alternativen befassen wir uns im Thema Änderungen auf molekularer Ebene.

Außer der Auswertung der Chromosomenzahlen bei den einzelnen Arten kann die Variabilität dieser Werte in einzelnen Pflanzengruppen erfaßt werden. So variieren die Chromosomenzahlen bei den krautigen Angiospermen um den Faktor 100, bei den holzigen Angiospermen um den Faktor 14, bei den Coniferen nur um den Faktor 2, bei den Cycadeen ist keine Variabilität vorhanden. Mit der Zunahme der Chromosomenvariabilität geht eine Variabilität morphologischer Merkmale einher. Wie wir im folgenden Thema noch sehen werden, verfügen die krautigen Angiospermen über ein weites Repertoire an Fortpflanzungsstrategien. Ihre Populationsgrößen sind meist kleiner als die der verholzten Arten, günstige Genotypen können rasch fixiert werden, die Evolutionsgeschwindigkeit wird dadurch gesteigert (D. A. LEVIN, A. C. WILSON, 1976).


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