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Flechten (Lichenes)


Flechten sind eine Organismengruppe, die man ebensowenig wie die Pilze zum Pflanzenreich rechnen darf, das gilt um so mehr, wenn Blaualgen (Anabaena, Nostoc u.a.) als "grüne" Symbiosepartner (Phycobionten) beteiligt sind (in der Mehrzahl der Fälle sind die Phycobionten Chlorophyceen, Xanthophyceen und einige andere Algengruppen). Es ist müßig, darüber zu streiten, wohin sie zu stellen sind. Wichtig ist, daß durch den Zusammenschluß von Algen und bestimmten Pilzen (meist aus der Klasse der Askomyceten, seltener aus denen der Basidiomyceten und Zygomyceten) erfolgreiche, neuartige Formen entstanden sind. Es gilt der klassische Satz aus der Systemtheorie: Ein System ist weit mehr als die Summe seiner Teile. Flechten (ca.16000 rezente Arten) müssen daher als eigenständige Organismengruppe ebenso eingehend bearbeitet und analysiert werden wie jede andere Organismengruppe auch, und wie überall, so gibt es auch in der Flechtenforschung (Lichenologie) eine eigene Nomenklatur, um die nur hier auftretenden Strukturen und Vermehrungsmechanismen der einzelnen Arten zu charakterisieren und ihren Lebenszyklus zu verfolgen. Es würde den Rahmen dieses Projekts sprengen, auf diesen Bereich näher einzugehen. Zum Verständnis der Wechselwirkung Pflanze-Pilz (hier Phycobiont und Mycobiont genannt) sind die folgenden drei Problemkreise von Interesse.

  1. Können die Symbiosepartner unabhängig voneinander auskommen?
  2. Wodurch tragen die Partner zum Gelingen der Symbiose bei?
  3. In welchen Lebensräumen sind Flechten gegenüber anderen Organismen im Vorteil?


Zu 1. Können die Symbiosepartner unabhängig voneinander auskommen?

Die Phycobionten sind durchweg auch ohne ihren Symbiosepartner lebensfähig. Blaualgen ändern im Verband mit dem Mycobionten ihr Erscheinungsbild nur wenig. Symbiotische Grünalgen (meist sind es, wie schon gesagt, Chlorophyceen, und darunter wiederum meist Arten aus der Gattung Trebouxia) können ebenfalls ohne den Pilz existieren. Es mag vielleicht auffallen, daß die Gattung Trebouxia als Phycobiont verbreitet, als freilebende Alge aber in der Natur relativ selten ist. Solange die Symbiose anhält, werden keine Zoosporen und Gameten gebildet. Wie Isolierungsversuche ergaben, geht die Fähigkeit dazu keineswegs verloren; vielmehr bilden diese Algen, wie die freilebenden Formen, umgehend wieder die genannten Vermehrungsstadien. Eine Reihe von Algenarten, die freilebend vielzellig sind, sind im Verband mit dem Pilz einzellig.

Im Gegensatz zu den Algen ist das algenfreie Pilzmycel echter Flechten in der Natur in der Regel nicht lebensfähig. Es mag einige Ausnahmen geben, doch können die Mycelien in den Fällen keine Fruchtkörper bilden. Unter Laborbedingungen (bei ausreichender Nährstoffversorgung, z.B. mit Zusatz von Algenextrakt) kann das Pilzmycel einiger weniger Arten auf Agar auswachsen, doch nie wird ein flechtenspezifischer Thallus ausgebildet und auch die Fruchtkörperbildung unterbleibt.


Zu 2. Wodurch tragen die Partner zum Gelingen der Symbiose bei?

Da der Phycobiont photosyntheseaktiv ist, zeichnen sich Flechten durch eine autotrophe Lebensweise aus. Als freie Alge sezerniert Trebouxia etwa 8 Prozent der durch Photosynthese gebildeten Kohlenhydrate, aus Flechten isolierte Trebouxia-Zellen sezernieren bis zu 40 Prozent. Bei den Substanzen handelt es sich meist um einfache Zucker (Glucose u.a.) sowie Zuckeralkohole, wie Ribit, Erythrit, Sorbit u.a. Die erhöhte Sekretionsrate beruht auf einer Induktion durch den Pilz und einer dadurch bedingten Veränderung (Reduktion der Permeabilität) der Plasmamembran und der Wandstruktur. Stickstoffbindende Blaualgen (z.B. Nostoc) versorgen ihren Symbiosepartner zusätzlich mit reduzierten Stickstoffverbindungen.

Das Engagement der Pilze ist offensichtlich höher. Der Kontakt zu den Algen ist bei den einzelnen Flechtenarten unterschiedlich stark ausgeprägt und spiegelt deren Evolutionshöhe wider. Es können zahlreiche Übergänge zwischen vorübergehender Assoziation zwischen Pilz und Alge und dauerhaften Verbänden (den eigentlichen Flechten) nachgewiesen werden. Die Wechselwirkung kann mit zunehmender Komplexität wie folgt klassifiziert werden:

  1. Pilzhyphen und Algen liegen ohne direkten physischen Kontakt nebeneinander. Die Lage der Algen hat keinen Einfluß auf die Orientierung der Pilzhyphen.

  2. Einzelne Algen oder Algengruppen werden von Pilzhyphen locker umsponnen.

  3. Einzelne Algen oder Zellgruppen sind von einem dicht anliegenden Pilzmycel umsponnen.

  4. Die Hyphen differenzieren sich und bilden spezifisch geformte Umklammerungshyphen aus, von denen Einzelzellen oder Zellgruppen fest umschlossen sind.

  5. Algen und Pilze bilden feste Kontakte untereinander aus. Dabei kann es - vor allem bei den als primitiv eingestuften Flechten - zur Haustorienbildung kommen.

Haustorien sind Ausstülpungen der Hyphe, durch die der Pilz durch die Pflanzenzellwand (hier der Alge) hindurch in deren Zellumen eindringt. Der Zellinhalt bleibt jedoch vom Plasmalemma umschlossen. Vielfach werden die Kontaktstellen zwischen Plasmalemma und Haustorium verändert, wodurch eine überproportional starke Ausbreitung des Haustoriums unterbunden wird.

In mikroskopischen Präparaten - vornehmlich der höher entwickelten Formen - ist eine Zonierung erkennbar. Die Oberfläche wird durch eine (vielfach) verkrustete, oft pigmentierte, algenfreie Rinde gebildet. Darunter folgt eine Zone, in der Algen vorherrschend sind, und darunter wieder (im Zentrum des Thallus) ein Mark aus lockerem Mycel. Die Vorteile dieser Architektur sind leicht einsehbar: Die verkrustete Rinde schützt den Thallus weitgehend vor Wasserverlust, ist aber gleichzeitig ein Organ, das jederzeit schnell Wasser aufnehmen kann. Die Pigmente und die Lage der Algen sichern, daß jene keiner zu hohen, aber dennoch ausreichenden Lichtintensität ausgesetzt sind.

Flechten können große Wassermengen aufnehmen. Ihr Frischgewicht beträgt dann oft ein Vielfaches des Trockengewichts. Andererseits sind sie gegenüber Austrocknung relativ resistent, sie können daher längere Trockenperioden unbeschadet überstehen. Flechtenthalli sind artspezifisch konstruiert. Aufgrund ihrer Morphologie unterscheidet man zwischen Krusten-, Laub- und Strauchflechten und den Gallertflechten


Zu 3. In welchen Lebensräumen sind Flechten gegenüber anderen Organismen im Vorteil?

Wie in den Eingangsbemerkungen angedeutet, gehören Flechten meist zu den anspruchslosesten Organismen. Viele Arten sind Pioniere. Sie besiedeln u.a. Orte, die anderen Organismen keine Lebensgrundlagen bieten. Man findet sie am Nordrand der Tundren (bis 86 Grad N) ebenso wie in der Antarktis (bis 80 Grad S), im Hochgebirge (bis knapp unter 5000 m Höhe), in Wüsten und Halbwüsten und in den Tropen (sowie in den gemäßigten Klimazonen). Flechten gedeihen auch auf felsigem Untergrund, wozu Pflanzen und Pilze kaum in der Lage sind. Für Pilzwachstum fehlt das organische Substrat, für vielzellige Pflanzen ist an den extremen Standorten die Vegetationsdauer zu kurz, und für Algen ist die Gefahr der Austrocknung zu hoch.

Die skizzierten Widrigkeiten erinnern wohl an jene Situation, die an der Erdoberfläche geherrscht haben mußte, bevor sie von Gefäßpflanzen (und ihren Vorgängern) bedeckt wurde.

Die Vielseitigkeit der Flechten zeigt sich aber auch daran, daß sie trotz der sich ausbreitenden Pflanzendecke in weiten Teilen der Erde weiterexistieren und sich den neuen Bedingungen gut anpassen konnten. Flechten sind oft als Epiphyten auf Pflanzen (an Baumrinden, auf Blättern) zu finden. Nur selten leben sie parasitisch. Sie können Ionen selektiv aufnehmen und speichern. So wurde z.B. bei Arten auf Baumrinden gezeigt, daß sie einen höheren Anteil an Silikat, Phosphat, Magnesiumoxyd, Eisenoxyd und Aluminiumoxyd enthalten, als in der Baumrinde selbst vorhanden ist. Nicht seten wurde eine Akkumulation von Schwermetallionen nachgewiesen. Andererseits sind Flechten gegenüber Luftverunreinigungen extrem empfindlich. Selbst geringe Mengen an Schwefeldioxyd inhibieren das Wachstum. Das Verschwinden von Flechten in Städten und stadtnahen Wäldern war schon lange vor Beginn der Diskussion um den Sauren Regen ein sicherer Indikator für ansteigende Schwefeldioxyd-Konzentrationen in der Atmosphäre.


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