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Heterosis


Wie aus mehreren dargestellten Beispielen ersichtlich, kann ein Gen in heterozygotem Zustand bereits seine volle Leistung erbringen. Wir haben aber auch gesehen, daß es oft eines Zusammenspiels mehrerer Gene zur Ausprägung eines Merkmals bedarf. Dieses Phänomen begegnet uns immer dann, wenn wir es mit komplexen Merkmalen, wie Blütenfarbe oder "Ertrag" zu tun haben. In der Regel findet man dann fließende Übergänge zwischen den einzelnen Phänotypen. So konnte E. BAUR 1919 nach langjährigen Arbeiten an Antirrhinum majus über 100 verschiedene Gene charakterisieren, die an der Ausprägung von über 1000 verschiedenen (genau analysierten) Rassen beteiligt sind. Allein durch eine relativ kleine Zahl von Genen - größenordnungsmäßig 20 - ist die gesamte Farbenmannigfaltigkeit der Löwenmäulchenblüten erklärbar. In Folge aller denkbaren Kreuzungen läßt sich eine kontinuierliche Variationsreihe erstellen. Bei 20 Genen sind nämlich 220 = 1 048 576 voneinander verschiedene Kombinationen (Phänotypen) möglich. Die sichtbare Kontinuität beruht somit auf dem Vorhandensein weniger diskontinuierlicher Einheiten (Gene). Dieses duale Prinzip ist in der Natur weit verbreitet. Man denke hier nur an die bekannte Tatsache aus der Chemie, daß jede Substanz aus einfachen Partikeln (Atomen oder Molekülen) zusammengesetzt ist. Kontinuität tritt überall dort in Erscheinung, wo die ihr zugrunde liegenden Einheiten unter der Auflösungsgrenze des Betrachters (Mensch, Tier oder technisches Gerät) liegen. Zusammenfassend schreibt E. BAUR:

"Ich bin aufgrund der genauen Kenntnis der Grundunterschiede von Antirrhinum majus imstande, ähnlich wie ein Chemiker, der sich aus wenigen Grundstoffen eine ungeheuer große Zahl von Verbindungen herstellen kann, mit Hilfe eines kleinen Satzes von Pflanzen, deren Formel ich genau kenne, irgendwelche gewünschte Rasse, d.h., eine gewisse Kombination von Grundunterschieden jederzeit herzustellen."

Diese Aussage ist zugleich ein Programm für die Pflanzenzüchtung, denn die genaue Kenntnis des Ausgangsmaterials erweist sich damit als eine alles entscheidende Voraussetzung zur Selektion optimal ertragreicher Kultursorten.

Obwohl das prinzipielle Vorgehen auf scheinbar einfache Überlegungen zurückgeht, trifft die Isolation und Manifestation reiner Linien, vor allem bei Fremdbefruchtern, auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Man geht davon aus, daß es z.B. beim Mais etwa 30 wachstumsfördernde Gene gibt. Die Wahrscheinlichkeit, eine Pflanze zu finden, in der sie alle in dominant homozygotem Zustand (AA BB CC DD EE FF.....) vorliegen, beträgt 1: 430. Die dafür benötigte Versuchsfläche würde das 2000fache der vorhandenen Landfläche der Erdoberfläche ausmachen.

Wie kommt ein Züchter aus diesem Dilemma heraus? Das magische Wort lautet Heterosis (G. M. SHULL, 1909). Heterosis beruht auf der Feststellung, daß die Fl zwischen zwei ertragreichen Sorten einen höheren Ertrag als die beiden Elternsorten ergibt. Die Durchschnittsleistung ist auch stets höher als die der nachfolgenden Generationen (F2, F3 .... Fn).

Das Ziel der Züchtung kann deshalb nicht darin bestehen, nur reine Linien zu gewinnen. Vielmehr ist es wichtig, solche Formen zu selektieren, die unter kontrollierten Bedingungen die günstigsten Eigenschaften aufweisen. Es ist daher durchaus sinnvoll, Jahr für Jahr neue Bastarde zu erzeugen, deren Produkte der menschlichen Ernährung (oder der Ernährung von Tieren) dienen. Entgegen traditioneller Praxis bedeutet das eine Trennung von Saatguterzeugung und Nahrungsmittelerzeugung. Heutzutage beruht beispielsweise nahezu der gesamte Maisanbau in den Vereinigten Staaten (von dort ausgehend auch in anderen Ländern) auf einer solchen Heterosiszüchtung. Die wissenschaftlichen Grundlagen für den wirtschaftlichen Erfolg wurden in der ersten Hälfte des Jahrhunderts durch die amerikanischen Genetiker (und Pflanzenzüchter) D. F. JONES, G. H. SHULL, P. C. MANGELSDORF und L. J. STADLER gelegt. Zur Demonstration des Effekts eignet sich ein relativ einfaches Beispiel:

Die Höhe von Erbsenpflanzen wird durch die Zahl der Internodien im Stengel und die durchschnittlichen Internodienlängen bestimmt. Für die Internodienzahl sei das Gen Z, für ihre Länge das Gen L verantwortlich. Die jeweils dominanten Allele lassen demnach viele lange Internodien entstehen. Durch Kreuzung zweier halbhoher Rassen, von denen die eine viele kurze, die andere wenige, aber lange Internodien besitzt, müßte man eine Fl mit gesteigerter Wüchsigkeit erhalten. Unter der Annahme, daß das dominante Allel Z die Bildung von 24, das entsprechende rezessive (z) 12 Internodien induziert und die Internodienlänge bei L 6 cm und bei l 3 cm beträgt, käme man durch Kreuzung zu folgendem Ergebnis:

P ZZll x zzLL 24 x 3 = 72 cm 12 x 6 = 72 cm
F1 ZzLl 24 x 6 = 144 cm
F2 9 x Z.L.
3 x Z.ll
3 x zzL.
1 x zzLL
entspricht 9 x (24 x 6)
entspricht 3 x (24 x 3)
entspricht 3 x (12 x 6)
entspricht 1 x (12 x 3)

Daraus errechnet sich eine Durchschnittslänge von 110,25 cm. In der F3 ist die Situation noch ungünstiger. Die Durchschnittslänge sinkt auf 95,06 cm. Das Beispiel lehrt, daß die Leistung in aufeinanderfolgenden Generationen drastisch abnimmt. Die Abnahme beruht nämlich auf der kontinuierlichen Abnahme heterozygoter Formen bei gleichzeitiger Zunahme der homozygoten. Das heißt jedoch nicht, daß sich allein dominante Allele in den einzelnen Pflanzen konzentrieren. Vielmehr treten Kombinationen wie AA bb CC dd ee ff GG oder aa bb CC DD EE ff gg oder AA BB cc dd EE FF GG .........usw. auf. In jeder Kombination liegt nur ein Teil der Gene in homozygot dominantem Zustand vor, und das wiederum führt zu relativ ungünstigen Phänotypen. Die Leistung der Heterozygoten Aa Bb Cc Dd Ee Ff Gg ........ wird nur von einigen wenigen erreicht. Die ihrerseits sind in der Masse der übrigen Genotypen so leicht nicht zu finden.

Es gibt einige Wildformen, die stets als Heterozygoten vorliegen. Das klassische Beispiel hierfür ist Oenothera lamarckiana (und andere Oenothera-Arten) aus der Familie der Nachtkerzengewächse (Onagraceae). Die genetische Analyse ergab, daß das Genom in zwei Komplexe zerfällt, die O. RENNER (1924, Botanisches Institut der Universität Jena) gaudens und velans nannte. Der gaudens-Komplex induziert die Bildung grüner Knospen, breiter Blätter und roter Flecken auf den rosettenbildenden Blättern; der velans-Komplex eine Rotstreifung der Knospen, schmale Blätter und grüne rosettenbildende Blätter.

Diese Merkmale können beim Betrachten von Oenothera lamarckiana und ihrer intraspezifischen Nachkommenschaft gar nicht erkannt werden. Erst nach Kreuzung mit verwandten Arten, wie z.B. Oenothera muricata treten sie in Erscheinung. Oenothera lamarckiana kann als ein gaudens-velans-Hybrid beschrieben werden. Aufgrund eines balancierten Letalsystems bleiben nur die Hybriden erhalten. Für Oenothera muricata gilt etwas Ähnliches: Die Art wird als rigens-curvans-Hybrid charakterisiert. Der rigens-Komplex erzeugt nur defekte Pollen (aber funktionsfähige Eizellen), der curvans-Komplex einen funktionslosen Embryosack. Deshalb sind nur die Kombinationen rigens (weiblich) x curvans (männlich) lebensfähig. Eine Deutung des balancierten Letalsystems konnte 1949 nach Analyse der Chromosomenkonstitution (des Karyotyps) der jeweiligen Komplexe gegeben werden (Komplexheterozygotie).


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