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Erkenntnisprozesse
Vererbung - Evolution - Molekular- und Zellbiologie

aus: Peter v. Sengbusch: Molekular- und Zellbiologie - Springer - Verlag, Heidelberg 1979
Hypertextverknüpfungen zu Botanik online  5 / 2001

 

"One can watch an object for years and never produce any observation of scientific interest. To produce a valuable Observation, one has first to have an idea of what to observe, a preconception of what is possible. Scientific advances often come from uncovering a hitherto unseen aspect of things as a result, not so much of using some new instrument, but rather of looking at objects from a different angle. This look is necessarily guided by a certain idea of what the so-called reality might be. It always involves a certain conception about the unknown, that is, about what lies beyond that which one has logical or experimental reasons to believe"
aus: F. JACOB, Evolution and Tinkering, 1977

Biologische Forschung ist - wie jeder andere Wissenschaftszweig auch - ein Teil menschlicher Kulturgeschichte. Es sind immer wieder die gleichen Fragen, die man sich stellte und auf die man in jeder Kulturepoche Antworten gefunden zu haben glaubte.

Wir können alle Phänomene des Lebens unter zwei Gesichtspunkten betrachten, die durch die beiden Schlagworte Regulation und Evolution charakterisiert seien.

Es gibt kein ungeregeltes Wachstum, keine ungeregelte Struktur, die über einen längeren Zeitraum hinweg eine Überlebenschance hätte. Alle Lebensformen sind als Produkte einer stetigen Evolution anzusehen. Es war der Verdienst der Vorsokratiker, erkannt zu haben, daß unsere Welt mit betrachtender Erfahrung und mit den Mitteln vernünftigen Nachdenkens verstehbar und erklärbar sei, ohne daß dafür metaphysische, also rational nicht faßbare Kräfte erforderlich seien. Hiervon ausgehend wurde geschlossen, daß die unüberschaubare Mannigfaltigkeit der Dinge auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen sei.

Die Naturphilosophen aus Milet unterschieden nicht zwischen belebten und unbelebten Dingen. XENOPHANDES deutete Fossilien als Dokumente einer verschwundenen Tierwelt. Diese Beobachtung und Deutung war vorurteilsfreier und richtiger als es die Vorstellungen bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein waren, in denen die Versteinerungen noch als verunglückte Erscheinungen oder auch als Luxusformen der Natur galten. EMPEDOKLES postulierte, daß die Pflanzen zuerst entstanden seien, dann einfache und schließlich höhere Tiere, zuletzt der Mensch. Nicht alle Organismen gelingen der Natur gleich gut. Was mißrät, wird im Kampf ums Dasein ausgemerzt. Damit hatte er die Selektionstheorie bereits so eindeutig formuliert, wie nach ihm erst wieder Charles DARWIN. Die Athener Philosophenschule (SOKRATES, PLATON, ARISTOTELES) führte die Gedanken der Vorsokratiker fort. PLATON versuchte, eine Begriffssystematik einzuführen. Er unterschied zwischen Ober- und Unterbegriffen. Er untersuchte, wie man aus den verschiedenen Unterbegriffen mit logischer Folgerichtigkeit einen Oberbegriff bestimmen könne und welche logischen Forderungen an die Unterscheidung der Unterbegriffe und die Unterstellung unter einen Oberbegriff zu stellen seien. Er erkannte die bedeutung seiner Begriffssystematik für die Einteilung der Organismen.

Eine derartige Einteilung führt zu einer hierarchischen Systemform, einer Begriffspyramide. ARISTOTELES übernahm die logisch-ontologische Weltauffassung von seinem Lehrer PLATON und fügte dem als wesentliches Element seiner Weltanschauung die Kategorie "Ideen" hinzu, die er als eine Wirklichkeit oder eine Erfüllung (Entelechie) ansah, welche sich auf das Zustandekommen einer Weltordnung ausrichtet. Er nahm an, daß beseelte (belebte) Dinge eine ranghöhere Entelechie als die unbelebten hätten, die kristallinen eine höhere als die amorphen Stoffe. Pflanzen sind (nur) belebt. Tiere sind belebt und empfindlich, der Mensch ist belebt, empfindlich und hat eine Seele. Die höchste (unstoffliche) Entelechiestufe bildet die göttliche Urvernunft. Die für die heutige Biologie interessanteste Arbeit von ARISTOTELES ist seine "Tierkunde". Sie behandet ein Thema, das erst 1800 Jahre später von dem schweizer Arzt GESNER erneut aufgegriffen wurde. ARISTOTELES beschrieb über 5000 Tierarten und ordnete sie in einem System, das bereits so fundiert war, daß man viele der aristotelesschen Gruppierungen in den heutigen Ordnungen und Klassen wiederfinden kann.

Während des Mittelalters führten unterschiedliche Auffassungen und wechselseitige Anerkennung von Christentum und geistigen Leistungen der Antike zu jahrhundertelangen Diskussionen, die in der Scholastik gipfelten. Die Arbeiten von ARISTOTELES waren akzeptiert, und seine Aussagen galten als unumstößlich. Ergebnisse der Naturwissenschaften durften weder in Widerspruch zu ihnen, noch in Widerspruch zur Schöpfungsgeschichte der Bibel geraten. Es wurde eine Tradition verbindlicher Lehr- und Wissensstoffe begründet, wodurch die Wissenschaft in ein Stadium geistiger Erstarrung geriet. Eine Auflockerung dieser Einstellung begann - zunächst in Oberitalien - im 14. Jahrhundert mit dem Beginn der Renaissance.

Man begann, die Funktion des menschlichen Körpers zu verstehen, man lernte die einzelnen Organsysteme kennen und erkannte, daß zahlreiche Erkrankungen auf pathologische Veränderungen bestimmter Organe zurückzuführen seien. Das 18. Und 19. Jahrhundert brachte den Aufbruch der modernen Naturwissenschaften. Neben die Beobachtung trat das Experiment. Die Entwicklung des Mikroskops aus Anfängen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts durch den Engländer R. HOOKE (1635-1705) und den Holländer A. v. LEEUWENHOEK (1632-1723) leitete eine neue Phase biologischer Forschung ein. HOOKE erkannte als erster "Zellen", doch erst 1838/39 wurden die dann schon zahlreich vorliegenden Beobachtungen von M. SCHLEIDEN und T. SCHWANN zur Zelltheorie zusammengefaßt: Alle Lebewesen bestehen aus Zellen. 1855 folgte VIRCHOWs "Omnis cellula e cellula", womit die Kontinuität von einer Zellgeneration zur nächsten erklärt war. Anfang des 20. Jahrhunderts erschien in mehreren Auflagen O. HERTWIGs "Lehrbuch der Allgemeinen Biologie". Das Buch enthält im wesentlichen cytologische und histologische Befunde und zeigt, daß das uns heute geläufige Bild vom Aufbau der Gewebe und Organe aus spezialisierten Zellen bereits fest gefügt war. Von dieser Forschungsrichtung unabhängig entwickelten sich die Genetik und die Evolutionsforschung, die im 19. Jahrhundert in Gregor MENDEL und Charles DARWIN ihre profiliertesten Vertreter fanden. DARWINs bedeutendstes Werrk "On the origin of species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle of life" erschien 1859. DARWIN zählt darin und in seinen weiteren werken eine Fülle von Beobachtungen auf, die er als beweise einer natürlichen Selektion anführt. Seine Abhandlungen enthalten, von Fragmenten abgesehen, keinen Stammbaum der Organismen. Ein Zitat von ihm (1859):

"In der Natur treten irgendwelche unbedeutenden Abänderungen in allen teilen auf, und ich glaube, es läßt sich zeigen, daß veränderte Existenzbedingungen die hauptsächliche Ursache davon ist, daß ein Kind nicht genau seinen Eltern gleicht...."

".... Die natürliche Zuchtwahl wählt die besten aus. Wäre das nicht der fall, könnte die Erde innerhalb weniger Jahrhunderte nicht mehr die Nachkommenschaft eines einzigen Paares fassen. Nur einige wenige können leben bleiben, um ihre Art fortzupflanzen".

DARWIN ging davon aus, daß Merkmale vererbt würden, hatte jedoch noch keine exakte Vorstellung über den Vererbungsmechanismus. Er entwickelte die Pangenesis-Hypothese, die vorsah, daß die Keimzellen ein Sammelbecken für Partikel (Merkmalsanlagen) seien, die aus allen Organen dorthin zusammenströmen. Zum zentralen und kontroversen Thema der Selektionstheorie entwickelte sich sehr schnell die Frage nach der Abstammung und Stellung des Menschen,. DARWIN wich dieser Frage 1859 noch aus und schrieb lediglich:

"In einer fernen Zukunft sehe ich die Felder für noch weit wichtigere Untersuchungen sich öffnen. Die Psychologie wird sich mit Sicherheit auf den von Herbert SPENCER bereits wohl begründeten Satz stützen, daß notwendig jedes Vermögen und jede Fähigkeit des Geistes nur stufenweise erworben werden kann. Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und ihre Geschichte fallen."

1863 erschien von T. HUXLEY das Werk "Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur", aus dem der folgende, vielzitierte Gedankengang stammt:

"Die anatomischen Verschiedenheiten zwischen dem Menschen und den höchsten Affen sind von geringerem Werth, als diejenigen zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Affen. Man kann kaum irgendeinen Theil des körperlichen Baues finden, welcher jene Wahrheit besser als Hand und Fuß illustrieren könnte und doch gibt es ein Organ, dessen Studium uns denselben Schluß in einer noch überraschenderen Weise aufnötigt - und dies ist das Gehirn. Als ob die Natur an einem auffallenden Beispiel die Unmöglichkeit nachweisen wollte, zwischen dem Menschen und dem Affen eine auf den Gehirnbau gegründete Grenze aufzustellen, so hat sie bei den letzteren Thieren eine fast vollständige Reihe von Steigerungen des Gehirns gegeben: von Formen an, die wenig höher sind als die eines Nagethieres bis zu solchen, die wenig niedriger sind, als die des Menschen."

Ernst HAECKEL, Professor füe Anatomie und Zoologie in Jena verfaßte die 1866 herausgegebene "Natürliche Schöpfungsgeschichte", in der er sich der DARWINschen Selektionstheorie voll anschloß und sie durch eine Vielzahl neuer Beweise aus den Gebieten der Entwicklungsphysiologie und vor allem der vergleichenden Anatomie untermauerte. Er war der erste, der gut fundierte Stammbäume von Organismen aufstellte und dabei auch den Menschen mit einbezog. In den Vordergrund seiner Beweisführung stellte er zwei Argumente:

  1. Die Entwicklungs- und Keimesgeschichte des Menschen
  2. Den Vergleich eines jeden Organs mit den homologen Organen bei Tieren

Das letzte Argument belegt er mit gewissenhafter Präzision und faßt die Ergebnisse zu seinem Biogenetischen Grundgesetz zusammen.

"Die Keimesgeschichte ist ein Auszug der Stammesgeschichte oder mit anderen Worten, die Ontogenie ist eine kurze Rekapitulation der Phylogenie, oder etwas ausführlicher: Die Formenreihe, welche eine Entwicklung von der Eizelle an bis zu einem ausgebildeten Zustande durchläuft, ist eine kurze, gedrängte Wiederholung der langen Formenreihe, welche die thierischen Vorfahren desselben Organismus (oder die Stammesformen seiner Art) von den ältesten Zeiten der sogenannten organischen Schöpfung bis auf die Gegenwart durchlaufen haben. Die ursächliche oder causale Natur des Verhältnisses, welches die Keimesgeschichte mit der Stammesgeschichte verbindet, ist in den Erscheinungen der Vererbung und der Anpassung begründet."

Es gibt eine ganze Reihe von Bedenken gegen das "Biogenetische Grundgesetz", die es uns heute ratsamer erscheinen lassen, lieber von einer Korrelation als von einem Gesetz zu sprechen. Als physiologische Funktionen oder Lebenstätigkeiten nannte HAECKEL:

  1. Ernährung
  2. Anpassung
  3. Wachstum
  4. Fortpflanzung
  5. Vererbung
  6. Arbeitsteilung
  7. Rückbildung
  8. Verwachsung

Wenn man diese Erscheinungen. Wie es oft geschieht, immer noch als Definitionen vom Leben heranziehen möchte, sollte man sich vergegenwärtigen, daß diese Begriffe keine gleichwertigen Phänomene kennzeichnen (s. PLATON), sondern Erscheinungen, die in Organismen unterschiedliche Stellenwerte einnehmen.

 

Vererbung

Auch die Vererbungslehre oder Genetik blickt auf eine lange, traditionsreiche Vergangenheit zurück. MENDEL war nicht ihr Begründer. Vieles von dem, was ihm landläufig zugeschrieben wird, war schon vor ihm bekannt. Neu war allerdings,

  1. daß er nicht, wie seine Vorgänger verschiedene Arten miteinander kreuzte, sondern Sorten (=Rassen) einer Art
  2. Das Arbeiten mit genauen Zahlen und die Erkenntnis der Bedeutung der Abstraktion: Nach Vollzug dieses Schrittes ließen sich Vorhersagen machen.
  3. Die Erkenntnis, daß sich Merkmale unabhängig voneinander vererben.

Seine bedeutendste Arbeit "Versuche über Pflanzenhybriden" erschien 1865, blieb jedoch bis ins Jahr 1900 unbeachtet. Erst die "Wiederentdecker der Mendelschen Regeln" (CORRENS, deVRIES, TSCHERMACK) zu ähnlichen Ergebnissen kamen, wurde ihre Bedeutung erkannt und es wurde ihr die längst fällige Anerkennung zuteil. Zu den herausragendsten Vertretern der Genetik um die Jahrhundertwende gehörte der Freiburger Zoologe A. WEISMANN. Auf ihn geht die "Keimbahnhypothese" zurück, die besagt, daß es im Körper zwei Typen von Zellen gibt: Die somatischen und die Keimbahnzellen. Nur die in den Keimbahnzellen lokalisierten Anlagen werden auf die nachfolgende Generation übertragen. 1904 faßte er in seinem Buch "Vorträge über Deszendenztheorie", das auf in Freiburg gehaltenen Vorlesungen beruhte, den Stand der Forschung auf dem Gebiet der Vererbungslehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen, in dem er u. a. schreibt:

".....Wenn wir mit Recht die Chromatinsubstanz als Vererbungssubstanz betrachten, so leuchtet sofort ein, von welcher Tragweite diese gleichmäßige Verteilung ist, denn sie sagt aus, daß der sog. Befruchtungsvorgang die Verbindung des gleichen Quantums väterlicher und mütterlicher Vererbungssubstanz ist."

".....Enthielte jede der beiden kopulierenden Keimzellen die volle Normalzahl der Chromosomen, so würde im Furchungskern die doppelte Zahl enthalten sein und ginge das so fort, so müßte die Zahl der Chromosomen von Generation zu Generation in arithmetischer Proportion zunehmen und bald ganz ins Ungeheure wachsen:"

".....Von ganz besonderem Interesse aber ist der Umstand, daß diese Zahl immer die Hälfte von der Chromosomenzahl ist, welche die Körperzellen des betreffenden Tieres aufweisen und daß die Herabsetzung der Chromosomenziffer auf die Hälfte bei männlichen wie weiblichen Keimzellen durch die letzten Teilungen bewirkt wird, welche dem Reifezustand dieser Zellen vorangehen."

".....Determinante ist für uns nichts anderes, als ein Element der Keimsubstanz, von dessen Anwesenheit im Keim das Auftreten und die spezifische Ausbildung eines bestimmten Teiles des Körpers bedingt wird."

"Determinanten sind nichts hypothetisches, sondern etwas tatsächliches."

"......Der Wiener Physiologe Ernst BRÜCKE hat schon vor 40 Jahren die Ansicht begründet, die lebende Substanz könne nicht bloß ein Gemenge von chemischen Molekülen irgendwelcher Art, sie müsse "organisiert", d. h. aus kleinen unsichtbaren Lebenseinheiten zusammengesetzt sein. Wenn - wie wir noch annehmen müssen - die mechanische Theorie des Lebens richtig ist, wenn es keine Lebenskraft im Sinne der Naturphilosophen gibt, so ist der Brückesche Satz unbezweifelbar, denn ein zufälliges Gemisch von Molekülen kann die Lebenserscheinungen nicht hervorbringen, so wenig als irgendein einzelnes Molekül, weil eben Moleküle erfahrungsgemäß nicht leben, weder wachsen, noch sich fortbewegen. Leben kann also nur durch eine bestimmte Verbindung verschiedenartiger Moleküle entstehen und aus solchen bestimmten Molekülgruppen muß alle lebendige Substanz bestehen."

".....Ein gewöhnliches, chemisches Molekül kann sich nicht durch teilung vermehren, wird es gewaltsam gespalten, zerfällt es in ganz andere Moleküle. Erst das lebendige Molekül besitzt die wunderbare Eigenschaft des Wachstums und der Spaltung in zwei unter sich und dem Stamm-Molekül gleiche Hälften und wir ersehen daraus, daß hier ebenfalls bindende und abstoßende Kräfte, Affinitäten wirken müssen. Ich wüßte auch nicht, weshalb wir solche Kräfte nicht annehmen dürfen, machen wir doch die Annahme, daß die Hunderte von Atomen, welche nach heutiger Vorstellung ein Eiweißmolekül zusammensetzen und in seinem Wesen bestimmen, durch Affinitäten in dieser bestimmten und so überaus komplizierten Anordnung festgehalten werden. Oder sollten wir uns zwischen dem Atomkomplex eines Moleküls auf dem der nächst höheren Atomkomplexe des Biophors, der Determinanten und des Chromosoms eine absolute Scheidewand eingeschoben denken und ganz andere Kräfte in ihnen annehmen als wir sie in jenem wirksam denken ? Schließlich ist das Biophor nur eine Gruppe von Molekülen, die Determinante eine Gruppe von Biophoren."

Die letzten Sätze machen deutlich, daß WEISMANN erkannt hatte, daß man nach Molekülen suchen müsse, um den Vererbungsvorgang verstehen zu können. Doch dauerte es danach noch ein halbes Jahrhundert, bevor man an die Lösung dieser Probleme herangehen konnte. Die Genetik durchlief zunächst eine mittlerweile als "klassische Genetik" bezeichnete Phase intensiver Forschung, die zu einer Fülle neuer Erkenntnisse führte: Chromosomenstrukturen wurden im Detail analysiert, Kopplungsgruppen wurden entdeckt, die ersten Genkarten wurden erstellt, Abweichungen von den Mendelschen Regeln wurden erklärt, pleiotrope Effekte, Mutationen und mutagene Agentien wurden nachgewiesen und man begann, sich die Fragen vorzulegen:

Genetische Grundlagenforschung lebt von der Wahl des richtigen Objekts und der richtigen Fragestellung. Schon MENDEL war in diesem Punkt seinen Vorgängern überlegen. 1911 wurde Drosophila als neues Versuchsobjekt eingeführt. In den dreißiger Jahren kamen der Schimmelpilz Neurospora und kurz darauf Bakterien und Viren hinzu. Die wesentlichen Gründe für die Wahl lauteten immer wieder: Kurze Generationsdauer, hohe Individuenzahl, leichte experimentelle Handhabe.

 

Molekulare Genetik - Eine neue Biologie ?

Die Natur macht keine Sprünge, der menschliche Geist auch nicht. Der Beginn der Molekularen Genetik ist nicht auf das Jahr 1953 (WATSON und CRICK stellten in dem Jahr ihr Modell der DNS vor), auch nicht in das Jahr 1944, in dem AVERY, McLEOD und McCARTY nachwiesen,, daß DNS genetische Information trägt. Ansätze zum Verständnis von Vererbungsvorgängen auf molekularer Ebene ergaben sich aus Beobachtungen von Stoffwechselkrankheiten. 1902 fand der englische Arzt GARROD, daß die Alkaptonurie, eine Krankheit, bei der sich der Harn dunkel färbt, erblich ist. Damit war gezeigt, daß auch Stoffwechselvorgänge (biochemische Reaktionen in lebenden Organismen) ebenso vererbbar sind, wie alle anderen, bisher bekannten phänotypischen Merkmale. Zwischen 1930 und etwa 1950 wurden die wesentlichen Stoffwechselwege in Organismen aufgeklärt, wobei es sich zeigte, daß die entscheidenden Schritte und Biosynthesewege (Glykolyse, Citratzyklus, Aminosäuresynthesen, Nukleotidsynthese u.a.) bei Mikroorganismen (Pro- und Eukaryonten), Pflanzen und Tieren nahezu gleich sind. Daraus ist zu schließen, daß die Evolution der Stoffwechselwege auf der Stufe der Prokaryonten weitgehend abgeschlossen war, und daß seitdem - von sekundären Stoffwechselwegen abgesehen - nicht viel hinzugekommen ist. Durch die Ein Gen - ein Enzym - Hypothese (BEADLE und TATUM, 1941; HOROWITZ, 1948) wurde der Zusammenhang zwischen Genetik und Biochemie hergestellt. Der Einsatz von Mutanten von Stoffwechselwegen erwies sich als eine effektive und zukunftsträchtige Methode zur Aufklärung einzelner Schritte und zur Produktion gewünschter Stoffwechselprodukte.

Ohne die hier kurz skizzierten Befunde und ohne die in den vorangegangenen Abschnitten dargestellten Entwicklungen hätte es keine Molekulare Genetik geben können. Biochemische Forschung befaßte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich mit kleinen Molekülen. Die Molekularbiologie und die moderne Biochemie befassen sich mit Makromolekülen und zum Verständnis ihrer Wirkungsweise ist das Wissen über die sog. "schwachen" Wechselwirkungen (Wasserstoffbrücken, ionische Interaktionen, Van der Waals'sche Interaktionen u. a.) unabdingbar. Sie waren WEISMANN nicht bekannt. Durch sie werden supramolekulare Komplexe und Zellen zusammengehalten, sie bedingen Spezifität und sie sind für die Matritzenfunktion großer Moleküle verantwortlich. Die Erfolge der Molekularen Genetik beruhen nicht allein auf dem Einsatz biochemischer Verfahren. Ganz entscheidend war und ist der Einsatz physikalischer und physiko-chemischer Methoden und Ansätze. Auch die Molekulare Genetik hat mittlerweile mehrere Phasen hinter sich und viele der Ergebnisse (dargestellt in zahlreichen Lehrbüchern) können inzwischen als klassisch angesehen werden.

In den 50er und 60er Jahren lernte man Einzelheiten über die Struktur des genetischen Materials kennen. Es wurde der endgültige Beweis erbracht, daß die genetische Information in der linearen Abfolge von Nukleotidbasen in der DNS niedergelegt ist. Das Watson-Crick-Modell veranschaulicht, wie sich die DNS repliziert, man fand, daß es einen Informationsfluß von DNS auf RNS und von dort auf Protein gibt. Hier sei das nur durch die Stichworte Transkription und Translation angedeutet. Man entschlüsselte den genetischen Code und man erkannte, daß die genetische Information von den Organismen äußerst ökonomisch genutzt wird. Ende der 60er Jahre breitete sich eine allgemeine Müdigkeit aus, und manche glaubten, die wesentlichen Probleme seien gelöst. "What is true for Escherichia coli, is true for the elephant".

Die Prognose war falsch. Die 70er Jahre brachten vieles Unerwartete. Man fand, daß bei Eukaryonten vieles ganz anders abläuft als bei den Prokaryonten. Die Kontrollmechanismen sind diffiziler, und es gibt weit mehr grundsätzlich voneinander verschiedene Formen, als man es sich ursprünglich vorgestellt hatte. Die Molekulare Genetik entwickelte sich zur Molekularen Biologie und zur Zellbiologie. Man begann, die Embryonalentwicklung auf molekularer Ebene zu studieren und bewies, daß Differenzierung auf zeitlich hintereinander geschalteten Genaktivitäten beruht. In diesem Zusammenhang stellte sich die bislang nicht befriedigend beantwortete Frage: Wie werden Genaktivitäten gesteuert ? Wir kennen auf der DNS von Viren und Prokaryonten zahlreiche Signale, die unterschiedliche Transkriptionsraten bedingen, doch wir wissen fast nichts über solche Signale auf der Eukaryonten-DNS. Die Transkription von DNS führt zur Bildung von RNS. Doch ist diese RNS, vor allem bei Eukaryonten, alles andere als ein fertiges Produkt. Teile werden von den Enden und aus der Mitte herausgeschnitten, viele Basen werden modifiziert, und an beide Enden werden zusätzliche Nukleotide anpolymerisiert. Die Transkription unterliegt einer Vielzahl von Regulatoren, teils intra-, teils extrazellulärer Herkunft. Entscheidend sind dabei, wie auch bei allen anern Kontrollvorgängen in der zelle (und zwischen Zellen), sowohl die Konzentrationen der einzelnen Reaktionspartner, als auch die anderer Moleküle und Ionen. Synthetisierte Proteine sind im Rohzustand selten funktionsfähige Einheiten. Auch sie werden nach ihrer Bildung verändert, vielfach werden Stücke von den Enden oder aus der Mitte heraus abgetrennt, einzelne Aminosäuren werden modifiziert und Kofaktoren werden kovalent oder nicht kovalent gebunden.

Komplexe Vorgänge laufen nur an komplexen Strukturen ab. Membranen, Ribosomen, Mitochondrien, kontraktile Elemente u.a. sind Einheiten, die aus zahlreichen Makromolekülen (oft unterschiedlicher Klassen) zusammengesetzt sind und durch schwache, aber zahlreiche Bindungen (Wechselwirkungen) zusammengehalten werden. Es steht dabei gar nicht mehr zur Debatte, um welche Moleküle es sich dabei handelt, sondern wie die einzelnen untereinander interagieren, wie sie zueinander angeordnet sind und in welchen Stückzahlen sie vorkommen. Makromoleküle zeigen in oligomeren Komplexen kooperatives Verhalten.

Das Verständnis von Vorgängen in der Zelle setzt die Kenntnis des Verhaltens von Molekülen in supramolekularen Strukturen voraus. Kooperatives Verhalten der Moleküle ist eine der Voraussetzungen dafür, daß Leistungen erbracht werden können, zu denen Moleküle in Lösung nicht im Stande sind (z. B. Photosynthese, Atmung, Proteinbiosynthese, spezifische Erkennung der Zellen untereinander u. a. ). Es gibt keine einfach gebauten Zellen. Selbst Escherichia coli, das Darmbakterium, das genetisch und biochemisch besser als alle anderen Organismen untersucht worden ist, ist molekular recht komplex. In Tabelle 1 ist eine Übersicht über Anzahl und Art der in ihm enthaltenen Moleküle wiedergegeben. ( Die Nukleotidsequenz des Bakterienchromosoms ist inzwischen auch bekannt ).

Eine solche Darstellung ist nur bedingt zufriedenstellend, denn sie sagt nicht aus, wie die Moleküanlegeordnet sind, welchem Umsatz sie unterliegen und wie die Syntheseleistungen in der Zelle aussehen. Escherichia coli - Zellen sind schnellwachsend. Die Generationsdauer beträgt unter günstigen Bedingungen 20 Minuten. In Tabelle 2 sind Umsatzraten genannt. Aus ihnen geht hervor, daß der Hauptanteil des Energieumsatzes der Produktion von Proteinen dient. Gerade die Proteinbiosynthese ist außerordentlich komplex und wird vielfach kontrolliert. Die Hauptkosten fallen bei der Kontrolle an. Andererseits sei vermerkt, daß alle synthetischen Leistungen einer Zelle von der präzisen Funktion der Proteine (Enzyme) abhängen.

Biologische Forschung ist selten reine Grundlagenforschung im engsten Sinne. In der Regel war und ist sie mit der medizinischen Forschung verknüpft. Nachdem man sich bei Escherichia coli einigermaßen auskannte, stellte man sich die Frage, wie denn die Struktur und Funktion menschlicher Zellen beschaffen sei. Man erarbeitete Methoden, die es erlaubten, Zellen beliebiger Herkunft in Kultur zu nehmen und wie Mikroorganismen zu behandeln. Die Ergebnisse erwiesen sich für die Tumorforschung, Virusforschung, Entwicklungsphysiologie und schließlich auch für die Evolutionsforschung gleichermaßen wichtig.

Komplexität

Je komplexer ein Organismus ist, desto mehr genetische Information enthält er. Kleine Viren enthalten 3 Gene, der Mensch ca. 50.000. Viroide, über deren Herkunft und Funktion noch weitgehend Unklarheit herrscht, bestehen aus einem Nukleinsäuremolekül (RNS) mit womöglich weniger Information als für ein Gen erforderlich wäre. DNS-Menge ist jedoch nicht mit genetischer Information gleichzusetzen. Die DNS der Eukaryonten (Organismen mit einem echten Zellkern) ist zu einem großen Teil aus repetitiven nicht informationstragenden Sequenzen aufgebaut. Es gibt zwar Vermutungen darüber, welche Bedeutung ihnen zukommt, eine endgültige Klärung steht aber noch aus. Bei den Eukaryonten sind die Informationsspeicher (die DNS) und die ausführende Maschinerie (Proteinbiosynthese, Stoffwechsel) räumlich voneinander getrennt (Zellkern - Plasma). Das gleiche Konzept wird beim Bau und Betrieb von Computern realisiert.

Genetische Information ist mit einem Konstruktionsplan vergleichbar, doch gibt es auf der DNS auch Informationen, wie, wann und mit welcher Effizienz die Information einzusetzen ist. Je mehr Information vorhanden ist, desto schwieriger ist es, sie bei der Zellteilung gleichmäßig auf beide Tochterzellen aufzuteilen und sie in einer geordneten Weise zu nutzen. Daraus ist ableitbar, daß ein erheblicher Aufwand an Kontrolle betrieben werden muß, um einen geregelten Ablauf gewährleisten zu können. Kontrollprozesse sind an Spezifität gebunden und die wiederum erfordert die Mitwirkung von Proteinen. Wie die Wechselwirkung zwischen einem Protein und einer Nukleotidabfolge in einer DNS (oder RNS) aussieht, gehört zu den erst in Ansätzen gelösten Problemen der Molekularbiologie.

Gene werden, wie oben gesagt, in einer zeitlichen Hintereinanderfolge exprimiert. Das hat einmal zur Folge, daß irreversible Prozesse in Gang gesetzt werden und zum anderen, daß es zu einer Hierarchie der Ereignisse kommt.

Vielzellige Organismen nutzen ihre genetische Information in unterschiedlichen Zellen verschieden. Die Wechselwirkung der Zellen untereinander erfordert die Existenz spezifischer Signale auf den Zelloberflächen, die eine andere Zelle als "selbst" oder "fremd" erkennen und damit eine Kooperation einleiten oder ausschließen. Die Entwicklung eines Vielzellers beruht auf einem sukzessiven Erwerb solcher Signale, und das wiederum beruht auf einem zeitlich gestaffelten Wechsel der Genexpression. Dabei geht es gar nicht einmal so sehr um die Ablösung eines genetischen Teilprogramms durch ein zweites, drittes usw., sondern vielmehr um eine Verschiebung von Gleichgewichten. Ein Gen oder eine Gruppe von Genen wird stärker exprimiert als vorher, während andere in ihrer Expressionsrate reduziert werden. Die Entwicklung (Ontogenese) eines Vielzellers kann daher als Realisation genetischer Programme angesehen werden, doch zeigen die Programme einen extrem hohen Grad an Flexibilität. Nur bei sehr primitiven ein- und vielzelligen Organismen läuft alles nach einem klar determinierten Schema ab. Das Bauchmark eines Nematoden (Caenorhabditis elegans) z. B. besteht aus 58 Neuronen (Nervenzellen). Während eines frühen Embryonalstadiums wird ein primitives Bauchmark aus 15 Neuronen angelegt. Während der darauffolgenden Stadien werden die noch fehlenden 43 Neuronen sukzessive eingeführt. Das Schicksal einer jeden Zelle ist dabei eindeutig vorherbestimmt. In einigen Fällen ist es sogar der programmierte Zelltod. Dieses Beispiel weist außer auf die bereits erwähnte Hierarchue der Ereignisse darauf hin, daß bei einer Embryonalentwicklung mehrere (hier 2) Programme zum Zuge kommen, deren Produkte derart ineinander geschachtelt werden, daß man im Nachhinein die Herkunft der Zellen nicht mehr zurückverfolgen kann. Die Entwicklung "höherer" Vielzeller ist plastischer. Einzelne Zellen können andere ersetzen. Die Entwicklung einer Organanlage geht nicht von einer Einzelzelle, sondern von einer Zellgruppe (einem Zellklon) aus. Umweltfaktoren greifen modulierend ein, verletzte Gewebe können (in Grenzen) regeneriert werden. Der schließlich fertige Organismus (sein Phänotyp) ist als ein Produkt aus Genotyp und Umwelteinflüssen während seiner Ontogenese anzusehen. Es genügt daher nicht, das Genom eines Individuums zu kennen, um alles über seine Entwicklung auszusagen, sondern man muß seine Geschichte kennen. Umweltreize können verarbeitet und gespeichert werden, und das wiederum kann auf den verschiedensten Ebenen der Organisationshierarchie einer Zelle oder eines Vielzellers geschehen. Zu den komplexesten Verarbeitungsmechanismen gehören bei tierischen Vielzellern das Immunsystem und das Nervensystem. Speicherung und Verwendung extern gebotener Information wird als Lernen bezeichnet. Selektion gelernter Information als Intelligenz und Neukombination als Denken. Voraussetzung zum Lernen und zur Auswertung des Gelernten ist das Vorhandensein von genügend Speicherplatz (genügend große Anzahl von Neuronen). Die ungefähre Anzahl und die Verknüpfung der Neuronen untereinander ist (weitgehend) genetisch determiniert. Nicht festgelegt ist hingegen, was, wann und wie gelernt wird, und was man mit dem Gelernten anfangen kann. Man kann hier den Vergleich mit dem Schachspiel anbringen. Es gibt nur einige (allgemein bekannte) Regeln. Doch die Kenntnis allein genügt noch lange nicht, ein Schachspiel zu gewinnen. Die Zahl möglicher Spiele ist enorm hoch, und man muß lernen, die Züge seines Gegners vorherzusehen, um seine eigene Taktik auf die Strategie des anderen abzustimmen.

 

Molekularbiologie und Evolution

Die Molekularbiologie im engeren Sinne befaßt sich, wie im vorangegangenen Abschnitt dargelegt, mit der Speicherung und Expression genetischer Information. Je einfacher das Versuchsobjekt ist, an dem ein gestelltes Problem zu lösen ist, desto größer ist die Aussicht auf Erfolg.

Einen entgegengesetzten Weg geht man in der Evolutionsforschung. Man fragt sich, wie die genetischen Programme entstanden sind, die die Entwicklung einer Escherichia coli - Zelle , einer vielzelligen Pflanze oder eines vielzelligen Tieres determinieren. Fragen der Evolution lassen sich erst nach Erfassung einer Vielzahl von Daten klären. Man ist bemüht, diese in einem geordneten System unterzubringen. Man sucht nach Verwandtschaften und konstruiert Stammbäume. Diese Arbeitsrichtungen (Systematik und Abstammungslehre) führten zu der Aussage, daß es eine Evolution gegeben hat, sagen aber nur wenig darüber aus, wie sie im einzelnen ablief, warum einzelne Stammeslinien erfolgreicher als andere waren und eshalb die Evolutionsgeschwindigkeiten von Stammeslinie zu Stammeslinie variieren (immerhin um 5 Größenordnungen).

1949 wies M. DELBRÜCK darauf hin, daß es in der Biologie - im Gegensatz zur Physik - keine absoluten Probleme gäbe, denn alle Erscheinungen sind zeit- und raumgebunden. Jedes Tier, jede Pflanze und jeder Mikroorganismus ist einzigartig, doch nichts anderes als ein Glied einer Evolutionskette sich wandelnder Formen, von denen keine eine bleibende Gültigkeit besitzt. Es gibt keine Struktur oder Funktion, die man völlig verstehen kann, solange man den geschichtlichen Hintergrund nicht in Betracht zieht.

Evolution beruht auf Veränderungen, doch nicht jede Veränderung ist mit einer Evolution gleichzusetzen. Ein Beispiel für "Nicht-Evolution" sind periodisch (zyklisch) wiederkehrende Ereignisse. Evolution ist gerichtet, doch die Richtung bedeutet nicht immer Fortschritt, denn vielfach ist es ein Weg ins Spezialistentum, und oftmals stellt das eine Sackgasse dar. Man schätzt, daß 99,9 % aller Entwicklungslinien zum Aussterben der betreffenden Arten geführt haben. Die Wandlung beruht auf einem Wechsel von Allelhäufigkeiten im Genpool einer Population. Nicht Mutationen, sondern vielmehr Rekombinationen sind als die Quelle der Entstehung einer phänotypischen Vielfalt anzusehen. Da alle Organismen der Selektion durch ihre Umwelt ausgesetzt sind, stellt der Phänotyp in der Regel einen Kompromiß zwischen einander entgegengesetzten Umweltanforderungen dar.

E. MAYR postulierte 1954, daß die Unterbrechung des Genfusses (z. B. die Isolation einer kleinen Teilpopulation vom Rest der Population) eine entscheidende Ursache der Artbildung sei. In dieser Teilpopulation stellt sich ein anderes Verhältnis der Allele zueinander ein, als in der Gesamtpopulation. Die neue Konstellation führt zu einer Kettenreaktion. Bei Anwesenheit bestimmtere Allele an einem Genort gewinnen bestimmte andere Allele an einem anderen Genort einen Vorteil. Träger dieser Allele setzen sich durch. Mit der Zeit werden die Unterschiede zwischen solchen Individuen und den Nachkommen der ursprünglichen "Restpopulation" so groß, daß die Mitglieder der beiden Populationen einander nicht mehr erkennen und sich nicht mehr miteinander paaren, so daß wir von zwei Arten sprechen müssen.

DeVRIES und BATESON nahmen Anfang des Jahrhunderts an, Artbildung sei auf "Großmutationen" zurückzuführen. Nachdem man gelernt hatte, was genetische Information ist, daß ein Gen ein Protein determiniert und was Mutationen sind, hatte man diese Gedanken verworfen. Heute würde man vielleicht etwas vorsichtiger sein. Wir wissen inzwischen, daß das Umarrangieren genetischer Information einen entscheidenden Einfluß auf die Evolutionsgeschwindigkeit systematischer Gruppen hat. Evolutionär erfolgreiche Gruppen, wie die Vögel und die Säugetiere, sind durch eine hohe Variabilität der Chromosomenzahlen von Art zu Art gekennzeichnet. Arten weniger erfolgreicher Gruppen, wie der Anuren (Frösche) haben alle nahezu die gleiche Chromosomenzahl. Dieser Befund macht deutlich, daß die Evolution nicht auf dem Erwerb neuer Gene und neuer Proteine beruht, sondern auf einer veränderten Steuerung von Genaktivitäten, die durch eine andersartige Zusammenstellung vorhandener Gene hervorgerufen wird. Auch hierbei sind z. T. wenigstens Evolution und Embryonalentwicklung (Ontogenese) miteinander vergleichbar. Wie im vorangegangenen Abschnitt dargelegt, kommt es auch bei der Embryonalentwicklung primär auf eine Verschiebung der relativen Expressionsraten der Gene an.

Was kennzeichnet ein lebendes System ?

Jedes heute (und mit Sicherheit auch in früheren Zeiten existierende, lebende System enthält Proteine (als Katalysatoren) und Nukleinsäuren (als Informationsträger). M. EIGEN (Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie, Göttingen) fügte 1971 alle aus der Molekularbiologie stammenden Daten zusammen und entwickelte eine Evolutionstheorie, die die Entstehung des Lebens als einen Selfassembly-Prozeß beschreibt. Weder Proteine noch Nukleinsäuren alleine können sich zu lebenden Systemen entwickeln. Erst die Wechselwirkung zwischen beiden Molekülklassen führt zu Eigenschaften, die wir einem lebenden System zuschreiben. Ein wesentliches Element der Interaktion besteht in der Instruktion zur Bildung neuer Moleküle und in der Kontrolle der Bildung von "richtigen". Hieraus folgt aber auch, daß es Wachstum und Vermehrung, sowie eine Selektion geben muß. Um dem Selektionsdruck widerstehen zu können, muß ein Mindestmaß an Stabilität vorhanden sein. Ein zyklischer Prozeß allein leistet das nicht. Erst die Zusammenschaltung mehrerer zyklischer Prozesse in einer spezifischen Art und Weise führt zur Stabilität. Es entsteht ein "Hyperzyklus" und damit ein früher Vorläufer einer Zelle.

Eine Evolution kann es nur geben, wenn das System "Fehler" macht und wenn sich "Fehler" unter gegebenen Selektionsbedingungen als vorteilhaft erweisen. Die Fehlerrate hingegen darf nicht zu groß werden, denn die Mehrzahl der "Fehler" führt mit Sicherheit zu weniger lebensfähigen Formen, die das System über kurz oder lang zum Aussterben bringen würden.

Was können einfache Systeme leisten ?

Die genetische Information vieler kleiner Viren ist in Form einsträngiger RNS gespeichert. Sie enthält selten mehr als 5-7000 Nukleotide. Offensichtlich sind die Kontrollmechanismen der Replikation nicht effizient genug, um ein größeres RNS-Molekül fehlerfrei zu kopieren. DNS ist in der Regel doppelsträngig, und damit ist eine zusätzliche Kontrolle eingebaut. DNS-Replikations- und Reparaturmechanismen sind aufwändiger als RNS-Replikationsmechanismen. Es können somit auch größere Moleküle mehr oder weniger fehlerfrei verdoppelt werden. Doch auch hier gibt es Grenzen. Prokaryonten enthalten in ihrem Genom selten mehr als 106 Basenpaare. Sie sind in der Regel haploid. Eukaryonten haben umfangreiche Genome, sind in der Regel diploid, und es gibt zusätzliche Mechanismen, die dafür sorgen, daß die Fehlerquote bei der Replikation auf ein Minimum reduziert wird (z. B. Aufteilung der Information auf mehrere Moleküle = mehrere Chromosomen).

Was braucht man noch, um eine primitive Zelle zu erhalten ?

  1. eine Abgrenzung gegenüber der Umwelt
  2. einen Energiestoffwechsel.

Der Energiestoffwechsel entwickelte sich ebenfalls zu immer höherer Effizienz. Energie (chemische Energie, Lichtenergie) wird eingefangen und in Form kovalenter, chemischer Bindungen oder Konformationsänderungen großer Moleküle in der Zelle gespeichert. Schon frühzeitig entwickelten sich Elektronentransportketten und ein Zusammenspiel von Schwermetallionen (vor allem Fe), Nukleotiden und Phosphationen

X~P + Pi < > X + P~P
X~P + ADP < > X + ATP

Phosphor ist gegenüber anderen, in lebenden Systemen vorkommenden Elementen (C, S, N) dadurch ausgezeichnet, daß er unter physiologischen Bedingungen nicht reduzierbar ist.

Nachdem sich ein Mechanismus einmal bewährt hatte, wurde er nicht weiter verändert. Der Zustand wurde eingefroren. Die Natur ist außerordentlich konservativ, und Änderungen darf es allenfalls auf übergeordneten Ebenen geben. Wir haben schon gesehen, daß alle wichtigen Stoffwechselwege bei allen Organismen nahezu gleich sind. Spezialisierte Zellen der Eukaryonten sind vor allem dadurch gekennzeichnet, daß die Gene für die meisten Enzyme reprimiert sind und die meisten Stoffwechselwege damit stilliegen. Ein vielzelliger Organismus kann nur dann existieren, wenn die am Aufbau beteiligten Zellen untereinander kooperieren und Informationen untereinander austauschen. Wir wissen inzwischen, daß die Membranen dabei eine außerordentlich wichtige Schlüsselrolle einnehmen, sei es, daß sie benachbarte Zellen als etwas eigenes oder fremdes erkennen, oder Signale wahrnehmen, sie verstärken und ins Zellinnere weiterleiten oder verwerfen. Je komplexer ein Organismus ist, desto aufwendiger sind auch diese Interaktionen. Ergebnisse aus der klassischen Biologie haben uns einen relativ guten Überblick über Abstammungsverhältnisse von Tieren und Pflanzen gegeben. Einsatz molekularbiologischer Daten erlaubt es, auch dort noch Abstammungsverhältnisse zu analysieren, wo wir mit konventionellen Methoden nicht weiterkommen.

Zwischen Pro- und Eukaryonten liegt ein scheinbar unüberbrückbarer Sprung in der Evolution. Eukaryotische Zellen sind groß und enthalten Mitochondrien (pflanzliche Zellen auch Chloroplasten). Es hat sich gezeigt, daß diese Organellen aus Endosymbionten hervorgegangen sind (Endosymbiontenhypothese).

Organellen sind, z. T. wenigstens, genetisch autonom. Ihr Genom kooperiert mit dem Kerngenom. In den letzten Jahren hatte man entdeckt, daß es springende Gene gibt, daß also eine genetische Information ihre Position im Genom wechselt. Diese Erscheinung mag als Erklärung für manche Befunde herangezogen werden, die sich klassischen Erklärungsmöglichkeiten entziehen. Unser Wissen über molekulare Prozesse in der Zelle ist immer umfangreicher geworden. Viele der noch offenen Probleme sind mit den uns heute bekannten Methoden lösbar. Es ist also oft lediglich eine Frage der zeit, bis wir die Antwort haben. Wir wissen aber nicht, was uns die nächsten Jahre noch an zusätzlichen Überraschungen bescheren werden.

 

Literatur

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